Auch Elfriede Jelinek liest einen Teil aus Camus' "Die Pest". (Bildschirmfoto)

Nichts als das Wort

Albert Camus: Die Pest - Eine Marathonlesung von 120 Stimmen in 10 Stunden

Theater:Rabenhof Theater, Premiere:10.04.2020Regie:Diverse: Rabenhof Theater & FM4

Vielleicht ist eine Warnung von Nutzen, oder zumindest eine Empfehlung: an alle, die in der kommenden Theatersaison mit einem alten Text die neue Lage reflektieren und kommentieren wollen – „Die Pest“, der 1947 erschienene Roman von Albert Camus, muss wirklich sehr pfleglich behandelt werden, wenn er sich zum Echo auf die pandemische Krise dieser Tage und Wochen entwickeln soll, auf der Bühne oder wie und wo auch immer. Das Deutsche Theater in Berlin zum Beispiel zeigte „Die Pest“ seit vorigem November schon in Andras Dömötors Fassung, auch die Bühnen in Magdeburg und Moers bearbeiteten Camus für die Bühne. Im Internet findet sich seit Ende März auch eine Lesung mit Christoph Nix, dem scheidenden Intendanten des Theaters in Konstanz. Die jetzt vorgestellte Gesamtlesung, initiiert vom Wiener Rabenhof Theater, gesendet auf den Wellen von „FM4“ beim Österreichischen Rundfunk (ORF) und dort vorerst bis Anfang Mai auch im Internet abrufbar, lässt zwar immer wieder jene Momente aufblitzen, in denen sich die existenzielle Herausforderung in der Fabel des Romans zum Vorweg-Echo auf den aktuellen Zustand der Gesellschaft auszuwachsen scheint – aber über einen ganzen Tag hin wird eben auch deutlich, dass die existenzphilosophische Geschichte über die Ausbreitung der Unmenschlichkeit in einer mittelgroßen Stadt nicht wirklich vergleichbar ist mit all den Fragen, die aktuell unausweichbar sein werden für die Zukunft nach dem Virus.

Mitten im Weltenbrand, 1942, beginnt die Arbeit am Roman, erst fünf Jahre später ist sie beendet. Und tatsächlich beschwört Camus ja „die Pest“ als Ausgangspunkt der allumfassenden Zerrüttung einer Gesellschaft, die infiziert ist mit dem anti-zivilisatorischen Gedankengut nicht nur des deutschen Faschismus, und die den Krieg als einzige und letzte mögliche Antwort zur Verfügung hat, um diese Vergiftung und Verseuchung aller einzudämmen. Alle sind dabei betroffen von Verlust und Verfall – auch die, die in der kleinen Stadt am Meer heldenhaft kämpfen gegen das Virus in Körper, Hirn und Seele der Bewohner, verspüren den latenten Schwund aller alltäglichen Menschlichkeit, der sie selber befallen kann im Kampf gegen die Seuche; sie beginnen, sich selbst als Überlebende wie im „Exil“ zu fühlen – den Flüchtenden auf den Booten im Mittelmeer also im Grunde ähnlicher als uns, die wir „nur“ die sozialen Kontakte minimieren sollen. Zugespitzt – Camus denkt weitaus größer als die Bedenkenträger, die gerade Bürger- oder gar Menschenrechte in Gefahr geraten sehen.

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Die Wiener Dauerlesung macht auch das deutlich: indem sie tatsächlich nur das Wort sprechen lässt, ihm keine Richtung, keine Bedeutung unterschiebt. Über 100 Wienerinnen und Wiener lesen vor, sehr oft vom Blatt und ohne in die Computer-Kamera zu schauen, gelegentlich mit Blick auf den Bildschirm, wo der Text mehr oder weniger gut ablesbar geschrieben steht. Fast alle sitzen im eigenen Wohn- oder Arbeitszimmer – vor Bücherwänden oder anderen eigenen Möbeln. Alltag also überall; und nur gelegentlich fällt jemand optisch aus dem Rahmen: wie die Schauspielerin Birgit Minichmayr, die – während sie liest – das Kamera-Auge nicht auf sich, sondern nach draußen richtet, aus dem Fenster und auf die mäßig erleuchtete Stadt. Sie sieht (vielleicht) aus wie Oran, die algerische Pest-Stadt des Albert Camus.

Zwischen der ersten und der letzten Seite begegnen wir Menschen, die spürbar kämpfen mit dem Text, aber auch vielen Virtuosinnen und Virtuosen des Wortes: Andrea Breth und Adele Neuhauser, Peter Simonischek und Dörte Lyssewski, Herbert Föttinger und Klaus Maria Brandauer, Elfriede Jelinek und Josef Hader, Arik Brauer und Stefanie Sargnagel, Alexander Kluge und Michael Maertens. Akustisch werden sie alle einander nicht angeglichen – der eine klingt, als läse er in einer großen Scheune, die andere intim, als spräche sie uns direkt ins Ohr. Lesefehler und Mikrophon-Kratzer markieren den Live-Charakter. Einziger gelegentlich wiederkehrender Leseort ist eine Mauer, vermutlich irgendwo am mitproduzierenden Rabenhof Theater im Wiener Westen; die hier gemachten Aufnahmen sind auch deshalb besonders schön, weil die örtlichen Singvögel mitsprechen und die Stadt persönlich sehr dezent im Hintergrund zu hören ist; gegen Ende nach über zehn Stunden fährt sogar an sehr passender Stelle die Wiener Rettung mit Alarm durchs akustische Bild.

In den herausragenden Augenblicken wird im übrigen spürbar, was für eine beeindruckend hohe Kunst die Vorleserei sein kann. Sie fokussiert wie sonst nie und nirgends das gesprochene Wort – wer es hier beim Zuhören und Zusehen ernst nimmt, wer eventuell auch das Buch selber zur Hand hat (in meinem Fall die erste deutsche Übertragung von 1950, in der mein lange verstorbener Vater, wie es seine Art war, besonders wichtige Stellen in geschlängelten Linien unterstrichen hat), der ahnt, dass „Die Pest“ derzeit vielleicht ein wenig vorschnell zum „Text der Stunde“ ausgerufen wird. Aber kein Zweifel – wer sich wirklich einlässt auf den Horizont des Albert Camus, wird weit hinaus getragen: wie einst der australische Regisseur Jeremy Weller, als er „Die Pest“ ausrief im allerersten Jahr der damals neuen Volksbühne im Berlin der Wendezeit.