Die Wiener Dauerlesung macht auch das deutlich: indem sie tatsächlich nur das Wort sprechen lässt, ihm keine Richtung, keine Bedeutung unterschiebt. Über 100 Wienerinnen und Wiener lesen vor, sehr oft vom Blatt und ohne in die Computer-Kamera zu schauen, gelegentlich mit Blick auf den Bildschirm, wo der Text mehr oder weniger gut ablesbar geschrieben steht. Fast alle sitzen im eigenen Wohn- oder Arbeitszimmer – vor Bücherwänden oder anderen eigenen Möbeln. Alltag also überall; und nur gelegentlich fällt jemand optisch aus dem Rahmen: wie die Schauspielerin Birgit Minichmayr, die – während sie liest – das Kamera-Auge nicht auf sich, sondern nach draußen richtet, aus dem Fenster und auf die mäßig erleuchtete Stadt. Sie sieht (vielleicht) aus wie Oran, die algerische Pest-Stadt des Albert Camus.
Zwischen der ersten und der letzten Seite begegnen wir Menschen, die spürbar kämpfen mit dem Text, aber auch vielen Virtuosinnen und Virtuosen des Wortes: Andrea Breth und Adele Neuhauser, Peter Simonischek und Dörte Lyssewski, Herbert Föttinger und Klaus Maria Brandauer, Elfriede Jelinek und Josef Hader, Arik Brauer und Stefanie Sargnagel, Alexander Kluge und Michael Maertens. Akustisch werden sie alle einander nicht angeglichen – der eine klingt, als läse er in einer großen Scheune, die andere intim, als spräche sie uns direkt ins Ohr. Lesefehler und Mikrophon-Kratzer markieren den Live-Charakter. Einziger gelegentlich wiederkehrender Leseort ist eine Mauer, vermutlich irgendwo am mitproduzierenden Rabenhof Theater im Wiener Westen; die hier gemachten Aufnahmen sind auch deshalb besonders schön, weil die örtlichen Singvögel mitsprechen und die Stadt persönlich sehr dezent im Hintergrund zu hören ist; gegen Ende nach über zehn Stunden fährt sogar an sehr passender Stelle die Wiener Rettung mit Alarm durchs akustische Bild.
In den herausragenden Augenblicken wird im übrigen spürbar, was für eine beeindruckend hohe Kunst die Vorleserei sein kann. Sie fokussiert wie sonst nie und nirgends das gesprochene Wort – wer es hier beim Zuhören und Zusehen ernst nimmt, wer eventuell auch das Buch selber zur Hand hat (in meinem Fall die erste deutsche Übertragung von 1950, in der mein lange verstorbener Vater, wie es seine Art war, besonders wichtige Stellen in geschlängelten Linien unterstrichen hat), der ahnt, dass „Die Pest“ derzeit vielleicht ein wenig vorschnell zum „Text der Stunde“ ausgerufen wird. Aber kein Zweifel – wer sich wirklich einlässt auf den Horizont des Albert Camus, wird weit hinaus getragen: wie einst der australische Regisseur Jeremy Weller, als er „Die Pest“ ausrief im allerersten Jahr der damals neuen Volksbühne im Berlin der Wendezeit.