"Oracle" von Susanne Kennedy und Markus Selg

Nicht von dieser Welt

Susanne Kennedy/Markus Selg/Enis Maci: Oracle/Wunde R

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:15.06.2020 (UA)Regie:Susanne Kennedy/Felix Rothenhäusler

Es ist wieder Theater. Und alles ist anders. Wobei dieses „anders“ im Falle von „Oracle“ nicht nur coronabedingt ist, sondern bereits so (ähnlich) geplant war. Die „immersive Installation“ von Susanne Kennedy und Markus Selg, die nun als erste Corona-Premiere die Münchner Kammerspiele wiedereröffnete, ist ein Zwitterding zwischen Theater und Museum, Schauspiel und Virtual Reality. Ein Erfahrungsraum, in den alle sechs Minuten eine Besucher*in gebeten wird. Zuvor sitzt man mit den anderen Wartenden und dem angemessenen Abstand auf einer langen Bank im Vorraum, rückt mit jedem Eintretenden ein paar Meter näher an die Tür, hinter der alle verschwinden und gefühlt viel weniger wieder herauskommen. Schon dieses Warten ist eine Aufregung, das Alleine-Eintreten eine Herausforderung. Denn „immersiv“, das bedeutet immerhin das komplette Eintauchen in eine virtuelle oder fiktionale Welt, in der der Schein zum neuen Sein wird.

Und dann ist es soweit. Die Tür geht auf, man betritt die andere Welt, in der man erstmal alleine ist. Unsicher geht man einen Gang entlang, wartet auf die angekündigte „Stimme“, die einem den Weg weisen soll. Vor einem Bildschirm dann erklingt sie. Man soll stehenbleiben, die Maske abnehmen und wieder aufsetzen. Wer beobachtet einen hier? Wer scannt einen? Unsicher folgt man der Einladung in den Hauptraum, ein psychedelischer Tempel mit drei Wesen, die aussehen wie aus einem Zukunftslabor. Sie starren einen aus Augen an, von denen man zwar weiß, dass sie echt sind, es dennoch schwer glauben kann. Freundlich, aber irgendwie unheimlich. Sie sagen Sätze wie „This is you“ oder „This is a risk“. Es ist gewissermaßen ein umgekehrtes Uncanny Valley: Nicht das Künstliche erscheint uns unheimlich, weil es beinahe menschlich ist – hier wird das Menschliche selbst künstlich und hinterfragt. Anders als bei den vorangegangenen Inszenierungen von Susanne Kennedy tragen die Schauspieler*innen Marie Groothof, Thomas Hauser, Ixchel Mendoza Hernandez, Benjamin Radjaipour und Frank Willens hier keine Masken, sondern nur transparente Visiere, in den schrillen Kostümen von Teresa Vergho und ihren langsamen Bewegungen wirken sie dennoch wie von einem anderen Stern. Man fühlt sich fehl am Platz, weil man selbst zwar eine Maske trägt, ansonsten aber irgendwie so unangemessen normal ist.

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Man kann sich diesen Blicken nicht entziehen, sie saugen einen mit einer ungewohnten Intensität an, doch da man von mehreren Seiten angestarrt wird, kann man ihnen nicht adäquat begegnen. Der coronagewöhnte Mensch war die letzten Monate selten mit Fremden in einem Raum, die plötzliche Nähe verunsichert und macht bewusst, wie ungewohnt der zwischenmenschliche Kontakt geworden ist. „You look special“, sagt eine der Figuren mit einer befremdend freundlichen Stimme, die nicht von dieser Welt ist. Und man ist geneigt, es zu glauben. Auch wenn man Momente später hört, wie sie dasselbe zum nächsten Besucher sagt. Man läuft die Stationen zum Orakel von Delphi ab in diesem labyrinthischen Raum, die Meditationsliegen, den Stroboskopraum, schließlich das Orakel, ein Auge auf einem Bildschirm, das befragt werden will. Die Ebenen überlagern sich: Zu Beginn starrt einen ein Wesen aus einem anderen Raum durch eine Scheibe an. Wenig später steht man selbst hinter dieser (da hat man das Orakel schon befragt) und schaut wissend zurück auf die, die folgen. „Don’t look forward“, sagt das Wesen. „Look at the past.“ Der Weg zurück in die Realität kommt plötzlich und wird irreal: Auf einmal steht man draußen, als wäre nichts gewesen, kann kaum glauben, was hinter dieser Türe liegt.

Wenig später folgt die zweite Kammerspiel-Uraufführung dieses Abends: Felix Rothenhäusler hat Enis Macis „Wunde R“ inszeniert. Diesmal werden an die 15 Zuschauer in die Kammer 3 geführt, wo sie sich um ein kreisrundes Spielfeld frei bewegen können (und so dem tristen Gefühl abmontierter Sitzreihen entgehen). Zeynep Bozbay, Eva Löbau, Vincent Redetzki und Julia Windischbauer sitzen um einen Glastisch voll glitzernder Gelatine-Kuchen, die im Laufe der Vorstellung zu flüssigem Batz schmelzen werden wie auch die Fassade der Figuren zunehmend in sich zusammenfällt. Rothenhäusler platziert (wie er das im übrigen auch vor Corona schon gerne gemacht hat) sein Ensemble statisch auf feste Positionen und lässt Macis Texte mit verfremdeten Stimmen sprechen. Um Körperkult geht es da, um Training und das „Dünngewordensein“, das brutale Maßnahmen erfordert und „kein singuläres Ereignis“ ist, das im Urlaub pausieren kann. Schließlich: „Es ist jederzeit wieder rückgängig zu machen.“

Den Text muss man trotz einiger präziser Beobachtungen und skurriler Assoziationen doch eher belanglos nennen, da helfen auch zusammenhangslos eingeschobene Verweise auf Flüchtlinge oder auf Frauenbiographien und gescheiterte Emanzipationsversuche (wie Maci sie gerne in ihre Texte verwebt) wenig. Das ersehnte Wunder bleibt aus, es bleibt die Wunde.