Vermutlich liegt das aber auch am Text und der Inszenierung, die eigentlich im Januar schon fertig geprobt war. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ spielt schon im Titel auf das während und wegen der Pandemie verstärkte Rauschen in den sogenannten sozialen Medien an. Die geteilten Meinungen über die echte Wahrheit, das zahlreiche Gerede und zunehmende Verschwörungstheorien sind wichtige Motive in dieser Sprachfläche, die ein sehr weites Feld bespricht und sich eher zaghaft an ein zentrales Thema oder Bild heranpirscht. In einem ausführlichen Vorspiel im Dunkeln macht die Inszenierung zunächst dramaturgisch sinnvoll, aber nicht unbedingt spannungsreich, per Hörspiel deutlich, dass es um den medialen Umgang mit der für uns alle existenziellen Krise geht. Die für die Pandemieverbreitung in Europa wirkungsreichen Feiern im österreichischen Skiort Ischgl, vor allem feierwütiger Familienväter, verbindet Jelinek gewohntermaßen mit antiker Mythologie, diesmal mit der Episode der „Odyssee“, in der die Zauberin Kirke die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt. Und je mehr in der sterilen Alpenhütte (Bühne: Duri Bischoff) die Wintersportler auch äußerlich zu Schweinen werden (Kostüme: Wicke Naujoks), um so fokussierter wirkt die Inszenierung. Wenn die beiden Ski-Schweine-Haserln (Angelika Richter und Julia Wieninger) ihre Amazon-Päckchen aufreißen und den Inhalt gierig ergreifen oder schnell beiseite legen und für sich und die anderen Hüttenmenschen Datenbrillen herausfischen, kommt das Spiel langsam in klarere, dringlichere Sphären.
Der Kern des Stücks ist nämlich das menschliche Schweinsein, die Verbindung von tierisch menschlichen Tätern und Opfern (darin übrigens dem oben genannten Stück von Goetz nahe): Nicht nur sind die Männer hier die Schweine, vielmehr sind die menschlichen Massen Opfertiere des Konsums (was sie wiederum anfällig für irre Verschwörungstheorien macht), zugleich steht das Schwein aber auch für die rücksichtslos ausgenutzte Natur. Die Verbindung findet Jelinek im antiken Bild aus der „Odyssee“; daraus schafft sie dann sprechende Bilder, die Beier in angemessene Szenen verwandelt, wenn etwa ein Koch (zuvor Barkeeper: Jan-Peter Kampwirth) empfiehlt, sich selbst, zusammen mit gesundem Gemüse, in der Mikrowelle zuzubereiten.
Im Verbund mit Videos (Severin Renke) von Schneesturm bis Feuersturm und immer wieder Bildern von geschlachteten oder zu schlachtenden Schweinen und von der Fleischzerkleinerung rüttelt die Hamburger Inszenierung also gedanklich durchaus auf. Die Pandemie ist kein Unglück, sondern Ausdruck eines Systemversagens der Menschheit. Die nach der Pause ins Publikum geschmissenen Mini-Salamis kann man da nur mit Abscheu empfangen. Durch die Schweine-Metapher wird „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ – Text wie Uraufführung – zu absolut zeitgemäßem politischem Theater. Dennoch wirkt die Aufführung bei aller handwerklichen Meisterschaft in allen Bereichen ein wenig kraftlos.
Sinnvollerweise orchestriert Beier schon im anfänglichen Hörspiel Sprachrhythmus-Musik. Die drei Blechbläser (Lukas Fröhlich, Sebastian „Johnny“ John und Stefan Pahlke, Komposition und musikalische Leitung: Jörg Gollasch) spielen virtuos und glücklicherweise eher äußerlich angedeutet krachledern-kitschig; vor der Pause der insgesamt fast dreistündigen Inszenierung greift dann Lars Rudolph (der zuvor meist den durchgeknallten Arzt-Außenseiter gab) zur Trompete, um hinter Schweinsmaske mit Lukas Fröhlich ein ergreifendes Trompetenstück (Air von Bach?) zu spielen; am Ende entwickelt das achtköpfige Ensemble aus einem Flüsterchor „Wir können nicht atmen“ einen anklagenden Abgesang auf die Demokratie: „Wir sprechen die Wahrheit. Wir werden nicht geehrt. Wir sind die Guten.“ Insgesamt bleiben die packenden Szenen aber eher selten, Eva Mattes tänzelt vielsagend ambivalent als Zauberin durch die Hütte, aus der zunehmend ein Schlachthaus wird, wirkt jedoch ein wenig blass; von Ernst Stötzners Odysseus-Gestalt hätte man gerne mehr gesehen; auch Maximilian Scheidt, tendenziell als Typ faschistoider Bergbub, und Josefine Israel, etwa als Frau für die ernsten Töne, machen ihre Sache tadellos.
Es bleibt ein etwas zwiespältiger Gesamteindruck von dieser Uraufführung. Die handwerklich klar vermittelte und nachvollziehbare Botschaft, dass es so nicht weitergehen kann, wird ästhetisch routiniert auf die Bühne gebracht und wirkt damit auch unverbindlich – als habe es fürs Theater kein Corona gegeben. Wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, kurz nach Beginn der zweiten Öffnungswelle in der Pandemie schon eine Neuerfindung des Theaters zu erwarten. Das Stück steckt voller Andeutungen und braucht einen engagierten Regie-Zugriff. Das Deutsche Schauspielhaus hat nichts falsch gemacht, indem es beispielsweise die österreichischen Momente reduziert hat; einen mutigeren Zugriff möchte man sich für künftige Inszenierungen dennoch wünschen.