Foto: Papierregen im Lesesaal bei „Werther“ am Festspielhaus Baden-Baden. © Andrea Kremper
Text:Bernd Zegowitz, am 25. November 2023
Das Schreiben, das Lesen und deren Wirkung möchte Robert Carsen in seinem neuen „Werther“ präsent halten, also Goethe in Massenets Oper zurückbringen. Der Bibliotheksbühnenraum am Festspielhaus Baden-Baden ist dabei wenig hilfreich, Kate Lindsey und Jonathan Tetelman machen das im Alleingang.
Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ hat einer ganzen Generation als dichterische Selbstdarstellung gegolten. Heute ist er immer noch Schullektüre und deshalb strömen die Jugendlichen in Klassenstärke in die Aufführung im Baden-Badener Festspielhaus, das ihnen Jules Massenets Oper als gut konsumierbares Opernevent präsentiert.
Lesen schadet
Robert Carsens Inszenierung, eine Koproduktion mit der Opéra National de Paris, spielt komplett im Einheitsbühnenraum von Radu Boruzescu, einem überdimensionierten Bibliothekslesesaal. Der Saal ist ausgefüllt mit Büchern über vier Stockwerke, ausgestattet mit Umgängen, Bibliotheksleitern, Lesesesseln und -lampen. Der Amtmann ist als Bibliotheksleiter verpflichtet, Schmidt und Johann sortieren die Bücher ein, Charlotte und Sophie unterrichten dort die Kinder. Zahlreiche stumme Studierende sind in die Einheitslektüre vertieft. Werther, einer der Besucher dieser Bibliothek, liest Goethes Roman, erkennt sich selbst und die junge Charlotte und das Unglück nimmt seinen Lauf.
Im Lesesaal der Bibliothek spielt sich mehr ab als nur Lesen. Foto: Andrea Kremper
Dass die Aufführung spannender ist als der Arbeitsalltag in einer Bibliothek, liegt weniger in Carsens eher realistischer Erzählweise, als vielmehr in seiner Symbolsprache. Mit dieser unterläuft er seinen eigenen Realismus. Die Zeit spielt in diesem Stück eine große Rolle. Die Handlung beginnt im Sommer und endet im Winter. Ob die Zeit damit einen Hinweis auf die gegensätzlichen Stimmungen, zwischen denen der Titelheld schwankt, gibt, unterschlagen die Kostüme (Luis F. Carvalho). Der brave Deutschlehrer Albert trägt den immer selben Cordanzug, Sophie bequeme Erzieherinnenkleidung und Werther Hoody und Lederjacke. Die herbstliche Jahreszeit wird dann allerdings dadurch symbolisch evoziert, dass im zweiten Akt Buchseiten erst wie Blätter vereinzelt auf die Bühne fallen und dann gehäuft wie Schneeflocken. Die Natur braucht es im Kunstraum der Literatur als reine Natur eigentlich gar nicht. Aber so subtil arbeitet Carsen zumindest in dieser Produktion zu selten.
Fabelhafte Protagonisten
Die Sängerinnen und Sänger sind allerdings mehr als alltäglich. Kate Lindsey befreit die Charlotte von aller Mütterlichkeit, die die Figur bei Goethe, aber auch bei Massenet noch hat. Sie ist aber auch keine Femme fatale, die Werther durch die Liebe aus Lust in den Tod singt. Sie wird wie aus heiterem Lesehimmel getroffen, bleibt aber dem Bibliothekswesen, verkörpert in der Figur des Albert, verpflichtet. Lindsey singt sie unprätentiös, jugendlich und zerrissen, mit schlanker Stimme, guter Höhe und etwas gaumiger Tiefe. Nikolai Zemlianskikh ist ein aalglatter Albert, der stimmlich nicht mal aggressiv werden muss, um zu überzeugen. Elsa Benoit singt die Sophie mit flatterhafter Leichtigkeit, muss sie darstellerisch aber zur Karikatur verzerren.
Tragödie im unüberschaubaren Haufen von Büchern. Foto: Andrea Kremper
Jonathan Tetelman gibt den Werther als Bibliotheksneuling, der die Hausordnung noch nicht auswendig kennt, der lieber zeichnet, als dass er liest. Er ist ein bisschen anders als die anderen Studierenden. Er singt wunderbar zurückgenommen, farbenreich, intelligent, mit Eleganz und Natürlichkeit in der Tonproduktion. Homogen und schön singen auch die spielfreudigen Kinder des Cantus Juvenum Karlsruhe.
Farben und Töne
Thomas Hengelbrock und das auf historischen Instrumenten spielende Balthasar-Neumann-Orchester bringen Massenets Partitur immer zwar wieder zum Leuchten, sie brechen das Werk auf, wechseln deutlich zwischen Statik und Dynamik, verweilen aber dann wieder zu oft im Augenblick, der so schön gar nicht ist. Werthers „J‘aurais sur ma poitrine“ kommt kaum vom Fleck, hat zu wenig Zug.
Während Hengelbrock den Komponisten Massenet musikalisch neu entdecken, das heißt, wieder ins 19. Jahrhundert holen möchte, setzt Carsen das Stück in die Gegenwart, um darin die Poesie wiederzufinden. In den Baden-Badener Bibliotheksräumen funktioniert das aber nur so halb.