Sein Darsteller Vincent Tapia, der immer im schnellen Wechsel zwischen Pantomime und tänzerischen Steilvorgaben nach dem verwilderten Wesen des Protagonisten suchen muss, wird zum Klon: Vom Autor Wilde hat er das bordeauxrote Jackett geborgt, vom Bayernkönig Ludwig II. könnte die Frisur stammen. Steffen Gerbers Kostüme sind üppige Modelasten der viktorianischen Ära mit einem Schuss Belle Époque. Im wesentlich kürzeren zweiten Teil der 70-minütigen Ballettballade finden sich Ansätze zum Zeitsprung Richtung 20. Jahrhundert. Jens Hübners fast leere Bühne und Lieve Vanderschaeves Projektionen auf drei Wände geben sich naiv. Flächendeckende Eleganz erweist sich als weichschleifendes Gleitmittel.
Das gilt auch für die Anhaltische Philharmonie, die mit großer Besetzung zur für die Uraufführung in Auftrag gegebenen Orchestration von Andres Reukauf anrückt. Kleinzelliges, Preziöses und Üppiges des nervösen und psychisch labilen Charismatikers Alexander Scriabin gibt es zu Dorians Lasterleben. Man hört immer wieder verdichtend gemeinte, aber hier eher angedickte Farben. Gegen Ende mehren sich vibrierende Bläsersoli zum kalt gefassten Niedergang Dorians, mit dem ersten Erscheinen seines Porträts kommt auch zum ersten Mal das Klavier zum Einsatz. Wie die Choreographie Tomasz Kajdanskis schöpft Elisa Gogou aus dem Vollen. Üppige Treibhausaromen und schweren, kaum atmenden Damast breitet sie über die Figuren des Balletts.
Es ist aber kein Gemälde, auf dem am Ende der gealterte Dorian aussieht wie der greise Franz Liszt, sondern ein vom ihm verfallenden Künstler Basil geschossenes Foto, das anstelle der Titelfigur alt, böse und hässlich wird. Tastsächlich erscheint der schöne Dorian zwischen Basil und Lord Henry, der bei Kajdanski Dorians Skrupellosigkeit äußerst elegant herauskitzelt, von geringer Autonomie. Daisuke Sogawa, dem die Choreographie den Sturz in Leidenschaft und Selbstaufgabe vorenthält, vereint als Basil eine androgyn schillernde Physiognomie mit viril akzentuierter Bewegungssprache. Julio Miranda zeigt als Henry unter der Soutane sinnfällige Verwandtschaft mit Mephisto und dem Phantom der Oper. Im Pas de trois der drei Männertemperamente haben die Diskurse über das Recht der Schönheit Energie: Dorian am Scheideweg zwischen Tugend und Laster, zwischen Kunst und Leben. Hier wird epische Breite zu dramatisch motiviertem Tanz. Spannend auch die durch ihre Liebe zu Dorian Gray ihre mimische Kraft verlierende Schauspielerin Sybil Vane. Maria-Sara Richter und Fergus Andrew Adderley als deren ehrbewusster Bruder James setzen asymmetrische Bewegungsakzente gegen die gefällige Glätte der schönen Reichen.
Schönheit als aggressives Blendwerk? Kajdanskis von hymnischem Enthusiasmus getragene Choreographie deutet wenig, malt stellenweise sehr kräftig und skizziert oft flüchtig. Die Verführung Lady Radleys (Anna-Maria Tasarz) und ihrer Tochter Celia (Nicola Brockmann) durch Dorian Gray verschwimmt. Andere Momente des Romans wirken entschärft: Die Wiederbegegnung des verführerisch junggebliebenen Dorian mit James ereignet sich auf nächtlicher Straße, nicht in der Sinnes- und Selbsttäuschungen zum Wirbeln bringenden Opiumhöhle.
In schönen Bildern wird voller Hingabe, auch mit Begeisterung getanzt. Flächendeckend will diese Adaption vom „Bildnis des Dorian Gray“ vor allem den porösen Schein. Die vier wichtigen Männerrollen erhalten immer wieder ausladende, ja virtuose Sequenzen, für die Scriabins nervöser Gestus von der großzügig aufgetragenen Farbpallette zum konturierenden Impulsmotor werden darf. An Momenten wie Sybil Vanes Tod reißen Reibungsflächen auf und man spürt endlich etwas von Oscar Wildes quecksilbriger Ambivalenz.