Foto: Alexandra Lukas, Marius Bistritzky und Eva-Maria Keller in "Odem" am Staatstheater Kassel © N. Klinger
Text:Nora Auerbach, am 10. November 2018
„Zehn, neun, acht,“ und weiter, bis auf eins, zählen die drei Robotermodelle. Dann kommt die Meldung: „Fehler.“ Die drei Androiden (Alexandra Lukas, Eva-Maria Keller, Marius Bistritzky), die ausgestattet mit Mikroports und in Robotermanier über die Bühne stolpern, leiden an einigen programmierten Fehlermeldungen: Denn sie wollen selbst Mensch sein und sind doch nur menschliche Roboter, die, ihrer automatisierten Routine folgend, uns unsere eigene Unvollkommenheit, unsere Projektionen und Sehnsüchte vor Augen führen. „Odem“ hat Wilke Weermann seine Stückentwicklung genannt, und Leben will der 1992 in Emden geborene Autor und Regisseur seinen Figuren auch mit aller Macht einhauchen. Bereits 2017 wurde er zum „Körber Studio Junge Regie“ nach Hamburg eingeladen. Nun legt er hier seine erste Regiearbeit nach seinem Studium in Ludwigsburg vor.
Über die rote, lackglänzende Bühnenlandschaft (Josa Marx) einer Abtei, die zwischen skurrilem Comic, Scherenschnitt und Friedhofsromantik an Caspar David Friedrichs „Abtei im Eichenwald“ erinnern soll, legen sich Nebelschwaden; Lichtstrahlen suchen sich ihren Weg durch diese schaurige Welt auf der Kellerbühne des Kasseler Staatstheaters. Grabkreuze, tote Äste und das Gewölbe begrenzen die Spielfläche. Der Vogelkäfig beherbergt auch keine echten, sondern automatisierte Vögelchen, die maschinelle Sounds von sich geben (Sound: Constantin John). Begleitet wird der Kampf der Androide um Anerkennung von der Nonne (Opernsängerin Lona Culmer-Schellbach). Sie besingt das Treiben, stirbt den Selbstmord am vergifteten Apfel, aber ersteht später wundersamerweise wieder auf. Instruiert durch den in der zweiten Hälfte stärker werdenden Text, wirken die Androiden zwischenzeitlich verloren bei ihrer Abarbeitung an der Frage: Wie kann etwas dem Menschen so ähnlich sein, was uns doch nicht gleicht?
In einer Welt, in der immer mehr Menschen ihre Lust mithilfe von Sex-Robotern befriedigen, Künstliche Intelligenz in vielen Lebensbereichen bereits selbstverständlich eingesetzt wird und Sciencefiction scheinbar zur Wirklichkeit werden könnte, untersucht das Team um Wilke Weermann in verschiedenen Situationen die Frage, was das Menschsein ausmacht und wer darüber entscheiden kann, wer und was als menschlich gelten darf. Ist das Streben nach Menschlichkeit nicht schon menschenähnlich? Hat nicht Alan Turing mit dem von ihm entwickelten und nach ihm benannten Turing-Test bereits gezeigt, dass es um die eigene gesellschaftliche Behauptung geht: Wer als Mensch gehalten wird, ist Mensch? Das zur Zeit auf vielen Bühnen verhandelte Thema der Posthumanität verkennt jedoch auch oft: Künstliche Intelligenz bedeutet weiterhin vor allem maschinelles, vom Menschen bestimmtes Lernen.
Hier ist es jedoch die Liebe zu etwas, unsere Einsamkeit, die über unser Menschsein entscheidet. Themen, wie sie schon in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ und Filmen wie „Blade Runner“ behandelt werden, sind hier in Bildern aneinandergereiht. Fragen nach der Öffentlichkeit und dem Politischen unseres Liebeslebens werden neben patriarchale Besitzansprüche, die gesellschaftliche Konstruktion von Andersartigkeit gestellt. Es entstehen Bilder, die verstärkt durch die Spielweise der Trennung von Körper und Sprache zwar eindrücklich sind, aber auch auf sehr illustrative Weise den Text bebildern. Die sich wiederholenden Fehlermeldungen, die sich in den „Sleep Mode“ versetzenden Androiden, die umherirrende Drohne sorgen für einige zu leicht verdiente Lacher im Publikum. Wie sich der als MB91 (männliches Modell, Baujahr 1991) bezeichnete Schauspieler Marius Bistritzky im Leichensack aus weißem Planenstoff auf der Bühne windet und ansetzt, die Luft anzuhalten, sich selbst dem Atem zu nehmen und dabei nur scheitern kann und anschließend stille Tränen über sein Gesicht laufen, rührt an und vollendet die Entwicklung der Androiden zum Menschen beinahe. Insgesamt ist insbesondere sein Spiel an diesem Abend überzeugend.
Was passiert, wenn auch wir Menschen immer fehleranfälliger werden? Und: Lässt sich Menschlichkeit überhaupt messen? Die materialreiche Inszenierung schlägt interessante, vielfältige Brücken, wirkt dadurch aber auch stellenweise unentschieden. Am Ende der Inszenierung steht keine Antwort, weder eine moralische noch eine ethische, sondern die Frage, wie Gesellschaft „Nichtmenschen“ produziert.