Louis, nicht Luise: nicht die einzige, aber eine wesentliche Veränderung gegenüber der Vorlage. Während die Tochter im Original ganz nach der Mutter geht, tritt Aleix Martinez in der „Ballettlegende” in die Fußstapfen sein Vaters: ein wildes, ungezügeltes Kind, das nicht mit den Gefühlen anderer zurande kommt – ganz so wie Liliom, der in einer Rückblende wieder der alte „Hutschenschleuderer” ist, wie es in der Übersetzung Alfred Polgars so vielversprechend heißt, der „Saukerl”, der „Schuft”, der Marktschreier, dem die Dienstmädchen reihenweise zu Gefallen sind. Das ist auch bei Neumeier nicht grundsätzlich anders: Bunte Glühbirnchen säumen die Szene, und Liliom besteigt eins der Karussellpferdchen, als wär‘ er eine Art Popstar in den depressiven Dreißigern. Michel Legrand, selbst schon eine Legende, schrieb im Auftrag des Hamburg Ballett die Musik, und wenn sie unter der Leitung von Simon Hewett abwechselnd zwischen den Philharmonikern Hamburg und der NDR Bigband so richtig loslegt, swingt sie, wie man das von einem Filmkomponisten seiner Couleur erwartet. Stellenweise hat man allerdings auch den Eindruck, als erklänge der Säbeltanz aus „Gajaneh” oder die Easy-Listening-Version einer Mahler-Komposition.
Für Julie hat sich Legrand eine seiner schönsten Streichermelodien einfallen lassen, die zwischen Dur und Moll oszilliert, und Alina Cojocaru ist es denn auch, die als Geliebte Lilioms dem Abend jene Ambivalenz gibt, die den letzten Balletten Neumeiers eher fehlte. Klein von Gestalt, erinnert sie auf den ersten Blick an Gigi Hyatt, die den Choreografen einst zu ein paar seiner innigsten Stücke inspirierte – und wie die Amerikanerin wächst die Weltklasse-Ballerina aus Rumänien in ihrer Rolle über sich hinaus, ohne jemals der Rührseligkeit Raum zu geben. Kerzengerade sitzt sie auf der Bank, während sie Liliom erwartet. Aber wenn sie sich einmal hineinträumt in ihr Solo, ist sie ganz Empfindung und scheint sie alle Scheu zu überwinden: eine wunderbare, technisch untadelige Tänzerin, die sich als Julie in ihr Schicksal ergibt – und der man dennoch die letzte, alles entscheidende Geste glaubt, wenn sie am Schluss gleichsam die Seele Lilioms mit Händen greift.
Liliom, das ist beim Hamburg Ballett Carsten Jung, und er ist genau der Tänzer, der für die Partie passt: kein Schönling, sondern ein eher kantiger, muskulöser Typ, der mit brachialer Gewalt über sein eigenes Unvermögen hinwegtäuscht. Im Innersten verletzbar, traut er sich nicht, seinen Gefühlen nachzugeben. Er nimmt sie als Schwäche. Stattdessen markiert er so lange den starken Mann, bis ihn die Vorstellung, Vater zu werden, gänzlich überwältigt. Sie ist es letztlich auch, die Liliom am Ende zum Verhängnis wird. Insofern unterscheidet er sich von einem Kraftprotz wie Stanley Kowalski, der sich sein Scheitern nicht eingesteht. Insofern unterscheidet sich seine Ballettlegende von jener legendären „Endstation Sehnsucht”, die er einst fürs Stuttgarter Ballett geschaffen hat. Und kommt ihr doch in vielem nahe.