Vor 31 Jahren im August 1987 war das ganz anders. Auch da stand Gustav Kuhn am Pult: Zur ersten Neuproduktion der 1819 uraufgeführten „Ermione“ im Teatro Rossini beim Rossini Opera Festival Pesaro. Da musste sich Montserrat Caballé gegen äußerst gemischte, ja feindliche Publikumsreaktionen verteidigen, indem sie erst rechtfertigend auf die Notenblätter und dann auf sich deutete: Geste der Bewältigung der horrend schweren Partie. Auch die huldigende Umarmung der Kollegin-Freundin Marilyn Horne konnte die enragierten Buhrufer nicht beschwichtigten, also stürmte Gustav Kuhn auf die Bühne und küsste der katalanischen Diva mit Kniefall inbrünstig die Hand. Nur so wurde „Ermione“ in Pesaro doch noch zum Triumph.
Jetzt gibt es diese Oper, mit der Gustav Kuhn in Pesaro reüssierte, also im neuen Festspielhaus Erl mit seiner in cremiger Weichheit schwimmenden und damit eigentlich wenig rossini-affinen Akustik. (Diese hat allerdings den Vorteil, dass sie die in knappen Probenzeiten nicht eliminierten Ungenauigkeiten liebevoll verschleiert.) Die Entscheidung für dieses Stück wirkt wie eine Selbstbefragung in Hinblick auf Leistungsvermögen, künstlerische Positionierung und persönliche Entwicklung. Im Zentrum steht Ermione, die den König Pirro heiraten soll, aber von diesem verschmäht wird. Denn Pirro liebt Andromaca. Als Witwe Hektors von Troja willigt diese nur zur Vermählung mit Pirro, dem Sohn des Mörders ihres Gemahls, ein, um ihrem eigenen Sohn Astianatte eine sichere Zukunft zu verschaffen. Doch Ermione treibt Oreste, der sie liebt, zum Mord an Pirro. Beide bringen sich um, als Oreste erkennen muss, dass Ermione ihn nicht liebt und nur als Werkzeug instrumentalisiert hat. Das Libretto lieferte Andrea Leone Tottola nach der Tragödie „Andromaque“ von Jean Racine.
Das namenlose regieführende Team „Furore di Montegral“ bringt mit praktikablen Arrangements maßvolle Bewegung in Rossinis mit vielen Ensembles und überraschenden Verkürzungen aufgeheiztes Musikgeschehen. Die Solisten hantieren mit Puppen und stehen später vor allem in epischer Gemessenheit nebeneinander. Karin Waltenberger kostümiert den Chor antikisch, die Solisten in einer hellenisch-nahöstlichen Zeitlosigkeit mit modischen Accessoires. Peter Hans Felzmann lässt in der einleitenden Sinfonia, von Rossini als eine monumental-geniale Chorkantate auf den Niedergang Troias modelliert, die Sängerinnen und Sänger der Chorakademie Montegral wirkungsvoll auf Treppen aus dem Orchestergraben auftreten. Die Solisten generieren ihre szenische Präsenz ohne allzu großen Druck vor allem aus den Affektangeboten der Musik.
Einfach ist diese Oper nicht, denn nur an wenigen Stellen gewährt Rossini in „Ermione“ die an ihm so geliebten virtuosen Melodienketten. Dazu gehören die zum Duett geweitete Auftrittsarie des Oreste, als der Tenor Iurie Ciobanu mit berückenden Koloraturen-Strahlen triumphiert, mit dem ebenfalls strahlenden Hui Jin als Pilade und das im wohlvertrauten Formmuster gestaltete Duett Pirros und Andromacas: Ferdinand von Bothmer und der füllig-warme Mezzo von Svetlana Kotina werden für diese Szene umjubelt. Doch wie in Ermiones großer Szene, in der Rossini das Modell der mehrsätzigen Belcanto-Arie expressiv zersplittern lässt, in den verheißenden Steigerungen, die dann doch keine Cabaletta bringen, und vor allem in den hochdramatischen Rezitativen fordert Rossini von seinen Hörern viel. Auch das bewirkte 1987 den Unmut des Publikums in Pesaro und den, gemessen am Erfolg anderer Rossini-Opern wie „La donna del lago“ oder „Semiramide“, bis jetzt relativ geringen Widerhall von „Ermione“. Insofern sind der Erfolg und positive Zuspruch in Erl höchst anerkennenswert.
Immerhin hat man dort mit Giovanni Battista Parodi (Fenicio), Maria Novella Malfatti (Cleone), Alena Sautier (Cefisa) und Giorgio Valenta (Attalo) auch eine gültige Besetzung für die kleineren Solopartien. An peripheren Ensemble-Einsätzen und am Beginn merkt man in den konzertierenden Passagen der Hölzer aus dem Graben noch Unsicherheiten, die sich später im monumentalen Sog der Partitur verflüchtigen. Viel Brio also, aber keine gemeißelten, brillanten Klänge: Gustav Kuhns Klangvorstellungen haben trotzdem auch in der fortgeschrittenen historisch informierten Aufführungspraxis Bestand, zumal man im Uraufführungstheater San Carlo mit großer Chor- und Orchesterbesetzung spielte. Auf der Basis einer starken Kontrabass- und Celli-Gruppe tendiert Kuhn mehr zum fülligen Musizieren, aus dem die bei Rossini dominierenden Holzbläser nicht immer in die vorgesehene Führung kommen.
Kuhns Affinität zu den monumentalen Zügen Rossinis steht in keinem Widerspruch zu seiner Sensibilität für die vokale Gestaltung: Maria Radoeva nähert sich der Assoluta-Rolle der Ermione in bestens konditionierter Klarheit. Sie umfängt faszinierende vokale Aquarellschattierungen mit starken Linien: Eine Frau, deren Gefühlsspirale in den Abgrund gleitet, keine Dämonin. Maria Radoevas von kristallinen Leuchtfeuern durchsetzter Lyrizismus macht bewundern, weil er über alle dramaturgischen und musikalischen Tücken dieser Oper zu triumphieren vermag.