Foto: © Thomas Koy
Text:Roland H. Dippel, am 14. Februar 2025
An der Neuköllner Oper in Berlin wird eine Erzählung aus der Sammlung „Verbrechen“ von Ferdinand von Schirach inszeniert. Fabian Gerhardt kombiniert Authentizität und Lehrcharakter und Markus Syperek untermalt musikalisch die Dringlichkeit der Handlung.
Es erstaunt, dass die knappe Prosa Ferdinand von Schirachs so selten ins Musiktheater findet. Der Bestseller-Autor setzt prägnante Sujets mit Restgeheimnissen, welche der Musik wie dem Bühnengeschehen beflügelnde Spannungs- und Emotionsnahrung geben könnten. So bestens beweisbar mit „Verbrechen – Tanatas Teeschale“, Wolfgang Böhmers jüngstem Musical für die Neuköllner Oper – und seinem letzten großen dort unter der Leitung von Bernhard Glocksin, bevor im Sommer Rainer Simon von der Komischen Oper Berlin an die deutschlandweit einmalige Kiezoper wechselt.
Von Schirachs Erzählung aus der Sammlung „Verbrechen“ wurde zum zweiaktigen Musical der unamerikanischen Art. Außerdem wurde es eine Hymne auf den aufgrund seines kriminellen Potenzials zunehmend angefochtenen Theaterstandort. Das Stück enthält auch eine Prise Sophistication, welche sich das ins Champagneralter kommende Haus natürlich leisten darf. Zugleich gerät „Verbrechen – Tanatas Teeschale“ zum originären Kulturprodukt, wie es in der Kombi von Authentizität mit pädagogischem Lehreffekt nur an der Neuköllner Oper möglich ist. Es war eine Frage der Zeit, dass nach Sujets wie „Berliner Leben“ über die Finanzeskalation der Immobilienbranche und Lund/Böhmers „Drachenherz“, die in die Jugendszene einer ostdeutschen Gemeinde versetzte Nibelungensage, als nächstes Soziobiotope vor der eigenen Haustür poetisch transformiert wurden. Und zwar echt „Harry-Jackpot-ter“-mäßig!
Blutroter Spielkasten und Männerkarikaturen
Im blutroten Spielkasten von Michael Graessner wird der auch aus einer TV-Verfilmung mit Josef Bierbichler bekannte Plot musicalisiert. Die auf hohe Vorbilder wie Aubrey Beardsleys priapische Männerkarikaturen zurückgreifenden Kostüme und die Street Fashion von Sophie Peters sitzen stimmig. Samir will von seiner deutschen Freundin Linda Vater werden, aber die Kasse ist klamm. Mit seinem gern auf Droge gehenden Freund Özcan und dem sympathisch bipolar zwischen einer griechischen und finnischen Identität pendelnden Manólis entwendet Samir aus einer Dahlemer Villa eine uralte und deshalb unermesslich wertvolle Teeschale. Zum Schluss landet diese wieder im Tresor, wo sie hingehört, und es gibt ein Happy-happy-happy-End. Die fein fließenden Übergänge von der sich viel auf den Sozioslang und Gestenvokabular verlassenden Regie Fabian Gerhardts, dazu die Pantomimen und Posen der Choreographin Alessandra La Bella geraten kantig und haben ein bisschen Gossen-Eleganz.
![Schirach Verbrechen Böhmer](https://www.die-deutsche-buehne.de/wp-content/uploads/2025/02/Verbrechen_tk_0447-1024x617.jpg)
Die blutrote Spielkastenbühne. Foto: Thomas Koy
Verschwiegen sei nicht: Das Regieteam setzt stark auf die dunkel gutturalen Stimmen und glutäugig intensiven Blicke des Ensembles. Salar Jafari gibt als Samir einen in die Karl-Marx-Allee verschlagenen Ritter mit echter Würde. Nicolas Sidiropulos setzt dem Manólis jede Menge seines individuellen Charmes zu. Linda Belinda Podszus modelliert eine postfeministische Motorradbraut mit rauer Schale und Empathie. Stern des Casts: Azaria Dowuona-Hammond kandiert den Özcan mit derart wissender Halbstarken-Chuzpe, dass sie alle analogen Anstrengungen der Hosenmezzos an den Berliner Opernhäusern in diesem Fach komplett auskurbelt.
Discounter statt Luxusferien
Von Schirachs Plot-Pastete in Neuköllner Dramaturgie-Kruste ist zwangsläufig eine Variante des Robin-Hood-Syndroms. Angegangen und ausgenommen werden nur die Reichen – logo. Es geht nicht um Luxusferien in der Karibik, sondern nur um den unbeschwerten Einkauf im Discounter zum Sattwerden der kleinen Wunschfamilie. Im Gegenzug geraten die Figuren der Ganoven-Mittelschicht (Oliver Urbanski und Armin Wahedi mit nackten Beinen und bebrillten Augen) besonders schmierig – durch Attitüden von Zocker-Existenzialismus und Knabensouvenirs aus der kirchlichen Schmuddelecke.
Gegen Ende brechtet und weillt es etwas stärker – aus dem Text mehr als aus der Musik. Die soziographischen Aperçus wirken noch etwas angelernt. Supergut geraten die Schwenks auf zwischenmenschliche Zartheiten und Sehnsüchte. Schlau ist die Einlage mit Platons berühmten Kugelgleichnis und damit auf die Unzulänglichkeit des menschlichen Glücksstrebens – nicht nur in Berlin, aber da besonders. Vielleicht ein Freudscher Ausrutscher: Beim kleinen Lamento auf das Westberliner Inseldasein vor 1989 sinkt das Stimmungsbarometer etwas.
Musikdurchzogene Dialoge
Nur weil das Wort „Musical“ die trefflichere Werbemarke abgibt, lautet der Untertitel dieser Uraufführung nicht Songspiel. Wolfgang Böhmers eindrucksvoll handlungsbezogene Musik zieht sich auch durch viele Dialoge. Sie tapeziert das Kiezstück mit Sounds von Sondheim-naher Dichte und Dringlichkeit. Markus Syperek kultiviert mit der perfekt spröden Bandformation dieses Kantig-Aphoristische, dem man am Premierenabend ein bisschen das Präzisionsstreben um Synkopen-Korrektheit und verfeinerte Rap-Prosodie anmerkt. Momentan fühlt sich das noch so tipptopp an wie Neukölln nach perfekter Straßenreinigung. Dabei rebellieren die Texte von „Demian“ und Gerhardt ständig gegen Reimsymmetrien und fordern zum Verschleifen heraus. Das einzige, was dieser perfekt geprobten Produktion also noch fehlt, ist der dreckige Boden mit Präservativen, Pizzakartons und Plastikperlen. Kommt noch – mit jeder Vorstellung etwas mehr!