Foto: "New World" - Szene mit Yoav Bosidan und Arthur Stashak © Gert Weigelt
Text:Melanie Suchy, am 26. November 2018
Ränder und Richtungen
Die erste Premiere des Balletts am Rhein in der jetzigen Spielzeit, „b.37“, ist wieder ein dreiteiliger Abend; Vorgänger „b.36“ war der bewegende „Schwanensee“ des Chefchoreographen Martin Schläpfer. Ungewöhnlicherweise sind es nun drei Uraufführungen, also ohne Griff in die Tanzgeschichte, ins Bewährte, und ohne ein Schläpfer-Werk; doch mit live von Teilen der Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Jean-Michaël Lavoie gespielten Kompositionen aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Man erwartet also ein Büschel Wagnisse, ungewohnte Perspektiven, und wird etwas enttäuscht. Nur eines der drei Werke weckt die Sinne in Richtung neuer Horizonte. Ein anderes versucht es immerhin, verheddert sich aber ästhetisch. Das dritte Werk ist ein Ärgernis.
Dieses „The Way Ever Lasting“ von Natalia Horecna verspricht viel: mit einer kleinen Besetzung und einer symbolistischen Skulptur aus Kreis und Dreieck von Darko Petrovic über der Bühne. Einem einzigen Paar, Frau und Mann, gibt die slowakische Choreographin, die für „b.30“ bereits ihren „Wounded Angel“ mit dem Ballett erarbeitet hatte, hier den Raum einer Geschichte. Doch leidet man beim Zuschauen weniger mit ihnen mit, wenn ihre Liebesküsse immer wieder verhindert oder unterbrochen werden, als dass Marcos Menha und Ann-Kathrin Adam (im klischeeroten Kleid) unterfordert wirken und differenzierte Rollenpersönlichkeiten bei den paar blutleeren Schritten, Schwüngen, Hebungen gar nicht entfalten können. Der Stör- und Ablenkungstrupp besteht aus fünf Damen und Herren in Schwarz und einem Teufelchen mit Hörnchen am Kopf. Ganz schlimm.
Wohin des Wegs?
Dagegen fährt Ballettdirektor Remus Sucheana die große Besetzung auf. Seine „Fantaisies“ machen Masse, auch im stilistischen Sinne. Alles darf. So wie sich die unbeschrifteten Wegweiser an einem hohen Pfahl, gestaltet von Mylla Ek, allmählich von einer einheitlichen Richtung hin zum Überall auffächern. Auch die Sinfonie Nr. 6 von Bohuslav Martinu von 1953 ändert dauernd ihre Anspannungen, Erregungen, zweifelhaften Triumphe und wenigen klärenden oder sanften Ruhemomente. Sucheanas bunt gekleidete Protagonisten tendieren zur scheinbar ziellosen, wenn auch häufig paarweise geordneten tänzerischen Geschäftigkeit, die er zuweilen effektvoll kurz anhält, und zum häufigen Rein und Raus. Wie Geistesblitze der Fantasie finden sich immer wieder synchron bewegte größere Gruppen zusammen. Oder sie klumpen sich in der hinteren Ecke und erstarren. Rasch zerfällt die Einmütigkeit wieder.
Sie tanzen Sucheanas Balletthorizont ab, in den Schläpfer häufig herüberwinkt. Die Füße sind nackt, werden gern keck angewinkelt, die Beine oft wuchtig breit gestellt, die Rücken gebückt, die Arme burschikos oder tatkräftig zur Seite gehalten oder die Ellbogen neben den Ohren rotiert, dazu schnelle, wendige, typische Sucheana-Schrittchen, rechts, links, überkreuz. Passgang, Fußschütteln, Stampfen, zu viel Rollen auf den Hintern und Laufen auf allen Vieren. Hinlegen. Kurzer Reigen, an Armen oder Händen gefasst. Manches ist weich und wellig, aber warum so heimlich? Am Ende rotieren sie selber um den Pfahl. Dumpf.
Die Entdeckung
Der großspurige Titel „New World“ gehört dem besten Stück des „b.37“-Abends. Sein Choreograph Robert Binet verpackt ein aktuelles Thema, das Zusammentreffen von Kulturen oder Lebensarten und die Zuschreibung entsprechender Identitäten, so geschickt, dass es Kunst wird und nicht Plakat oder wohlfeiler Aufsatz. Und das mit feinem Humor. Der erst 27-jährige Kanadier lässt seine „Neue Welt“ in der alten beginnen, im Opernsaal, während die Zuschauer sich noch hinsetzen und die Musiker im Graben Saiten streichen. Zwei Tänzer in grauen pyjama-ähnlichen Anzügen proben ebenso vor sich hin; Yoav Bosidan und Arthur Stashak scheinen spätere Szenen zu rekapitulieren, Drehungen, Armgeschlängel, Balancen auf einem Bein und das Aneinanderlehnen, vorwärts, Schulter an Schulter. Rückt ein Tänzer an den Seitenrand, verdoppeln und vervielfachen ihn die im Halbrund aufgestellten Spiegelwände von Shizuka Hariu. Hier beginnt eine andere Welt. Sie scheint. Sie kann auch blenden.
Der Einsatz der Musik, langsame, wie Glocken klingende Klavierakkorde von Nicol Muhlys „Quiet Music“ von 2018, markiert die offizielle Schwelle zur „New World“. Im Himmel hängt nun ein Ufo, wie es noch niemand je gesehen hat, weiß und fluffig, und in der Welt-Raumstation darunter tauchen unterschiedliche Völker oder Planetenbewohner auf. Kleingruppen, keine Massen. Die einen in luftigweißen Anzügen, andere in hautengen hellen Pellen oder in jenen Pyjamas. Einige sind so außerirdisch, dass sie auf Spitze tanzen und sich dabei gegenseitig spiegeln. Man tauscht auch Rollen: Erst posieren jene Ballerinen auf Pappsteinen ewig wie Göttinnen, dann übernimmt ein Mann-Frau-Paar die hübsche Stellung, aber hält sie nicht durch. Es schmilzt.
Während zwei Soloviolinen und Streichorchester Muhlys verträumte „Four Studies“ und „Honest Music“ summen und singen lassen, purzeln Tänzer, laufen, gehen Riesenschritte, trippeln rückwärts, sitzen einander quer auf den Schultern, fassen und tragen einander, kreisen, fallen, lehnen Schulter an Schulter, vorwärts.
Als Zuschauerin entdeckt man nach einer Weile Mitglieder der einen Kleidungsgruppe mitten in einer anderen. Machen einfach mit. Ein Engel erscheint, flügellos, weiblich, und verbreitet Hellig- oder Jugendlichkeit einfach durch springlebendig eiligen Tanz und ruckartig öffnende Arme. Eine andere Frau, erst in Anzug und Helm wie eine Forscherin oder Kleinastronautin, dann immer weniger bekleidet, schiebt sich in Zeitlupe und gebückt an der Bühnenkante entlang, am Rand dieser neu werdenden Welt, bis sie, Yuko Kato, die Einsamkeit oder Entfernung aufgibt für einen Tanz mit der Partnerin in Grau, Cassie Martin. Schließlich wird sie, als Weise oder Zeitenverbinderin, zum Mittelpunkt. Statt sich misstrauisch abzugrenzen oder zu bekriegen, tummeln sich diese achtzehn utopischen Wesen, großartige Tänzer und vom Choreographen genau richtig ausgesucht, auf je eigene oder die andere Weise gemeinsam in der Welt: wundersam und einladend.