Foto: "Lazarus" in Hamburg: Johanna Lemke, Chris Scherer, Nina Wollny, Gala Othero Winter (Mädchen, später Marley), Alexander Scheer (Newton) © Arno Declair
Text:Michael Laages, am 18. November 2018
Bunter, wilder, schriller: Falk Richter drückt auf alle verfügbaren Tuben für die Hamburger Begegnung mit jenem Musical, das vor drei Jahren in New York zur vorletzten Großtat wurde für den Pop-Solitär David Bowie; darauf folgte noch die CD „Blackstar“, dann starb er. Voll von Höhenflug und Absturz war sein Leben gewesen, und in diesem Zwischenreich, diesem Nebeneinander der Extreme war auch Leidensmann „Lazarus“ zu Hause – der Ire Enda Walsh schrieb für Bowie ziemlich endzeitlich die Geschichte aus Nicholas Roegs Film „The Man Who Fell to Earth“ weiter, der seinerseits den Science-Fiction-Roman von Walter Tevis adaptiert hatte. Anfang dieses Jahres zeigte das Düsseldorfer Schauspielhaus die deutschsprachige Erstaufführung des Musicals, Matthias Hartmann inszenierte und ließ die Fabel abendfüllend in einer Art Raumschiffkapsel spielen, die final tatsächlich gen Bühnenhimmel abhob; Milos Lolic folgte am Wiener Volkstheater, Tom Ryser am Theater Bremen – anders als Hartmann suchten diese beiden möglichst viel Distanz zur viel zu nahe liegenden Ikonenbildnerei.
Dabei mussten alle Interpreten bisher feststellen, wie sehr die Story schwächelt – „Lazarus“ ist ja wirklich bestenfalls eine Songrevue mit eher dünnem Text und extrem schmalen Handlungsinseln. Das weiß natürlich auch Falk Richter – hat sich wohl gerade darum aber für Vorwärtsverteidigung und höchstes Drehmoment entschieden. Insofern ähnelt der Abend auffällig Richters weithin gerühmter Version von Elfriede Jelineks Litanei „Am Königsweg“ – auch die hatte Richters Team mit Unmengen an Videoschnipsel-Kunst aufgemöbelt; hier sind mit Chris Kondek, Marcel Didolff und Alexander Grasseck (unter Mitarbeit von Ruth Stofer) gleich drei Spezialisten am Werk. Und wie für Jelinek darf sich Kostümbildner Andy Besuch auch diesmal wieder wirklich austoben auf Katrin Hoffmanns Bühne, einem kleinen Bergmassiv mit gereckter Nase oben und mit Bäumen drum herum, für die Hartmut Litzinger hinreißende Lichtstimmungen kreiert – so wird der Abend in jeder Hinsicht zum Überfall auf alle Sinne. Und all die Effekte könnten noch an Energie gewinnen, wenn keine Pause den Strom unterbräche.
Richters wichtigste Entscheidung aber ist durchaus dramaturgisch – er möchte an den Punkt gelangen, wo uns das wirre Durcheinander der Fabeln und Figuren als Achter- oder Geisterbahn erscheinen mag, deren Auf und Ab und Hin und Her sich im Grunde nur im Kopf des Helden Thomas Newton ereignet. Darum sitzt Alexander Scheer zu Beginn und auch später immer wieder im Sessel auf einem blitzartigen Steg mitten im Publikum; er ist oft nur der Beobachter, schaut Mummenschanz und Wimmelbildern zu und lässt die Träume und Alpträume nur bedingt an sich heran. So zeigt Richter, wie sehr die Figur schon „aus dem Spiel“ ist. Und selbst die Songs (sortiert aus Bowies Werken, von ganz alt bis ganz neu zur Zeit der Uraufführung) werden nur gelegentlich vom Bowie-Wiedergänger Scheer gesungen – auch alle anderen sind überaus gut bei Stimme: Yorck Dippe als alter Kumpel (der auch Saxophon spielt und gleich sterben muss), Tilman Strauß als beelzebübisch hinkender Höllenhund Valentine, Jonas Hien später als hohler Schönling Ben; grandios geradezu singt Gala Othero Winter als untotes Mädchen, das dem verzweifelten Todessucher Newton noch einmal etwas Hoffnung auf Rückkehr in ferne Galaxien gibt, und geradezu sensationell klingt Julia Wieninger als Assistentin, die dem düsteren „Dark Star“ Newton verfällt und den eher jammerlappigen Gatten (Thomas Mehlhorn) dafür beinahe ziehen lässt. Sachiko Hara, Johanna Lemke, Chris Scherer und Nina Wollny vervollständigen Richters toughe Musical-Truppe; speziell die „Teenage Girls“ (in Düsseldorf bloß Puppenklischees) bekommen hier richtig viel zu tun, im ständigen Wechsel der Kostüme.
Scheer lässt sich derweil lange treiben – stürmt dann aber plötzlich und wie in Explosionen rauf und runter, hin und her; als müsse er sich die Rolle auf der Bühne immer er-improvisieren. Das Programm weist erstaunlicherweise niemanden aus, der oder die für die Choreographie verantwortlich wäre; die aber hat’s auch in sich. Wie (natürlich!) die Musik – im Ensemble von Alain Croubalian findet sich auch die eigenwillige Bernadette la Hengst. Auch sie übrigens trägt Rot als Frisur – wie ziemlich viele im Ensemble: noch so ein Bowie-Effekt. Alexander Scheer zitiert viele Haltungen der Ikone herbei und mischt sie mit eigenen. Einmal trägt er sogar Gundermanns Kino-Brille…
Dieser akustische Blick in Bowies Kopf hinein ist enorm opulent, rasant und schräg, überbordend an Phantasie und mit jeder Faser, in aller aufgeplusterten Handwerklichkeit Theater pur. Wer mag, kann das „Broadway“ nennen – auch dort neigen ja die Geschichten dazu, letztlich am allerwenigsten zu interessieren. Demgegenüber jedenfalls haben sich Falk Richter und dieses starke Ensemble selbstbewusst behauptet.