Regine und Wolfgang zum Beispiel, aus deren Leben Thomas Freyer erzählt, sind doch aufrechte, klar und klug kämpfende Menschen gewesen und geblieben, in gut 20 Jahren DDR genauso wie in mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten neuer Einheit. Wurzelt womöglich auch in ihnen die aktuelle Katastrophe?
Zwischen Liebe und Polit-Zwang
Freyers Momentaufnahmen familiärer Geschichte zwischen Ostsee und Erzgebirge beginnen 1968: Während in Prag der Frühling von sowjetischen Panzern niedergewalzt wird, lernen die beiden einander kennen. Sie werden ein Paar, weil das Mädchen sich mächtig Mühe gibt mit dem jungen Pfarrerssohn, der zwar ein Moped hat, sich aber ansonsten gehemmt und unerfahren gibt. Immer wieder kommen die beiden einander abhanden, etwa als Wolfgang den allgegenwärtigen Polit-Zwang nicht mehr aushält, alle vorgezeichneten Karrierewege abbricht und plötzlich Orgelbauer werden will, irgendwo weit weg in tiefster Provinz.
Der Aufrührer und Querdenker ist und blieb immer wieder er, auch als er später städtischer Busfahrer wird. Wenn Autoritäten nur noch autoritär agieren, wird er hellhörig. Sie, die patente Regine, kämpft derweil um jede Möglichkeit, auch aus kompliziertesten Situationen das Beste zu machen. Am Ende, als Wolfgang Anfang 2024 im Pflegeheim gestorben ist, überprüft Regine genau das: Ob es ihr gelungen ist, immer und in jeder Lebenslage ihr Bestes zu geben.
Drei Lebensabschnitte
Sie prüft sich zu dritt – Freyer zeigt die Frau in drei Lebensaltern, und am Ende machen sich alle drei (Anna Windmüller als älteste, Raika Nicolai als Jüngste, und auch als Tochter Katja, sowie Nadja Robiné im Alter dazwischen) miteinander auf den langen Weg zur Selbsterkenntnis. Der Mann ist derweil immer gleich geblieben – Philipp Otto hat die kompliziertesten Momente zu bewältigen im Wechsel der Lebensalter – gerade noch sehr abwesend in der Pflege, holt er plötzlich noch die richtige MZ-Maschine aus der Kulisse. Er wagt in der Erinnerung und als junger Pfarrerssohn nochmal den Sprung ins kalte Wasser – und in die Liebe zu Regine.
Noch eine Figur gibt’s jenseits vom Familien-Panorama: Matthias, Wolfgangs Jugendfreund aus der Nachbarschaft – der blieb immer radikal unangepasst, wurde schon als Kind weggesperrt im Heim für „Schwererziehbare“. Er hielt sich immer radikal abseits vom Staatsgefüge, hat nie „funktioniert“ und legt sich eines traurigen Tages auf die Bahn-Schienen in Schönefeld bei Berlin. Fabian Hagen ist im Spiel immer präsent als Gegenbild zum DDR-Alltag. Kurz vor die letzten Bilder mit Wolfgang setzen Freyer und Regisseur Tilmann Köhler sogar noch ein Traumbild – darin hat Matthias sich doch nicht umgebracht und ist zum guten DDR-Kommunisten geworden, von den Genossinnen umschwärmt.
Alte Bekannte
Autor Freyer und Regisseur Köhler (die beide aus Gera stammen) arbeiten seit vielen Jahren miteinander. Gemeinsam sind sie nichts weniger als die bewährtesten und klügsten Seismographen dieser doppelt deutschen Geschichte. Weimar (wo Köhler auch mal eine Weile Hausregisseur war) wird immer wieder zum Fokus der Erkundungen, die sie im Echo-Raum der oft verdrängten und gern vergessenen DDR-Geschichten unternehmen. Die Stadt hat ja selber das Zeug zum Drama- und Trauma-Raum deutscher Geschichte, mit Goethe und Schiller, Bauhaus und Buchenwald als Eckpunkten – und der kurzlebigen Republik, die Weimars Namen trug.
In der „Redoute“, der Studiobühne des Nationaltheaters, hat Köhlers treuer Bühnenbildner Karoly Risz einen kargen Denk-Raum aus drei langen Tischen mit wenigen Requisiten drumherum entworfen. Über allem markiert eine monumentale Digital-Anzeige mit schnell wechselnden Jahreszahlen den jeweiligen historischen Hintergrund. Susanne Uhls Kostüme fangen dezent den modischen Zeitgeist ein; Matthias Krieg spielt Schlagzeug und Gitarre – und hat mit dem Ensemble vermutlich auch die fabelhaften Gesangspassagen einstudiert. Highlight ist das Lied der Wolgaschiffer.
Ohne Spektakel
Besonders überzeugend an Tilmann Köhlers Inszenierung ist der Verzicht auf jede Form von Spektakel – er setzt im szenischen Erzählen derart konsequent auf Normalität, dass diese kleine Familie in all den emotionalen und politischen Umbrüchen immer zum Mit-Empfinden einlädt, vielleicht sogar zur „Identifikation“, aber gleichzeitig führen sie uns das Drama des unberechenbaren Alltags vor.
So kommt das Publikum mit der Zeit auch dem leicht verwirrenden Titel auf die Spur: „dumme Jahre“ heißt eben nicht „Jahre der Dummheit“, sondern verweist darauf, wie „dumm“, also ohne jede Ahnung davon, wohin der Weg sie führen wird, die Figuren in diesem Erinnerungsspiel in jedes neue Jahr gestolpert sind. Völlig undramatisch und ohne erkennbares Ziel geht das Leben dahin – wie unscheinbar und angepasst der Mensch darin auch vorantreibt.
Manchmal geradeaus, manchmal auf Umwegen, manchmal im Blick zurück: Der Alltag birgt das schlimmste Drama. Und niemand wird ihm entkommen. „dumme Jahre“ ist ein herausragend gutes Theaterstück, in Weimar zeigt Tilmann Köhler die in jeder Minute überzeugende Uraufführung.