Orlando am Nationaltheater Mannheim Foto aus Szene mit Fächern

Wir alle sind ein bisschen Clownfisch

Virginia Woolf: Orlando

Theater:Nationaltheater Mannheim, Premiere:16.07.2024Regie:Milica Čortanovački

Nach Virginia Woolfs Roman „Orlando” inszeniert Milica Čortanovački am Nationaltheater Mannheim das gleichnamige Stück mit Zeitreisen und Geschlechtsverwandlungen. Ein klug konstruiertes Bühnenbild gibt dem eher auf Nacherzählung fokussierten Abend seine Form.

Ein schöneres Denkmal kann man einem geliebten Menschen kaum schenken: Man eignet ihm ein Buch zu und gewährt seiner Figur Unsterblichkeit. Sie reist durch die Zeiten, geht allerlei amouröse Liaisons ein. Und als zauberhaften Bonus darf sie sich noch von einem Geschlecht ins andere verwandeln. Lange bevor „Queerness“ als Lebenskonzept benannt wurde, hatte die Schriftstellerin Virginia Woolf sie als literarisches Experiment realisiert, nämlich in ihrem epochalen Roman „Orlando“ von 1928. Angelehnt an ihre zeitweise Geliebte, die zehn Jahre jüngere Vita Sackville-West, die nebenher noch diverse Romanzen einging, entwirft die Autorin eine Zeitreisende. Ihr Weg reicht von 1500 bis in die Moderne, sodass sie an der Entwicklung sämtlicher Geschlechterkonventionen teilnimmt – nicht immer zu ihrer Freude. Denn entgegen der Fortschrittsgeschichte zeugt der Umgang mit Frauen auch von markanten Rückschritten.

Anzeige

Eine Form für den Textmeilenstein

Zugegeben, solch einen überdies noch mit einer ästhetisch sprunghaften Montagetechnik versehenen Textmeilenstein auf die Bühne zu bringen, stellt kein einfaches Unterfangen dar. Dennoch hat Milica Čortanovački in seinem Regiedebüt am Nationaltheater Mannheim eine passende Form gefunden. Im Zentrum steht ein Aquarium (Bühne: Keiko Nakama), das sich im Laufe des Abends als virtuoses Hauptbild erweist. Da es dem Text letztlich um die Dekonstruktion von Gender-Klischees, mithin die feministisch flankierte Befreiung von Liebe und Sexualität geht, dient die gläserne Konstruktion zur Veranschaulichung all unserer künstlichen Normen. Ob im Reifrock oder im Korsett – stets erneut muss sich Orlando, souverän verkörpert von Antoinette Ullrich, die modischen Fesseln anlegen. Sie gleicht damit einem Fisch im artifiziellen Milieu unserer Wohnungen.

Antoinette Ullrich und David Smith vor dem sechseckigen Aquarium. Foto: Maximilian Borchardt

Doch damit nicht genug. Denn das transparente Sexagon, in dessen Mitte sich ein Schreibtisch befindet, repräsentiert auch noch genau das Gegenteil eines Gefängnisses. „Der Ozean ist voller Hermaphrodite“, hören wir an einer Stelle aus dem Off. Und wer würde diese Zwitterhaftigkeit besser verkörpern als… richtig, der Clown-Fisch! Er vermag binnen kurzer Zeit vom männlichen zum weiblichen Wesen zu wechseln und umgekehrt. Ihn als Luftballon träumerisch zwischen Seifenblasen über die Bühne schweben zu lassen, ist daher durchaus findig.

Mehr Erzählung, weniger Spiel

Also alles großartig? Was die Einfälle der Regie anbetrifft zweifelsohne! Und dennoch fehlt dem Abend ein wenig die Dynamik, was insbesondere mit der Art der Textpräsentation zusammenhängt. Statt mehr und auch weniger überstilisiert miteinander zu spielen, erzählen die beiden Protagonisten (Virginia Woolf und Nebenfiguren: David Smith) die Geschehnisse nach, darunter ein Date auf einer Eisbahn, ein Aufenthalt in Konstantinopel oder eine Hochzeit. Die dazugehörigen Outfits entnimmt Orlando direkt Fäden von der Decke, an denen im Übrigen auch Wimpel mit dem jeweiligen Jahr, in dem wir uns befinden, angebracht sind. Kurzum: Verdichtung des Stücks auf wenige und dafür auratische Szenen und etwas mehr Interaktion hätten die Premiere bestimmt noch nobilitiert.

Aber geschenkt! Am Ende bleibt der stimmige Eindruck, in eine Rêverie eingetaucht zu sein. Dazu tragen insbesondere das feine Lichtdesign und die sphärische Musik von Sherwin Douki bei. Alles wirkt dabei auch ein wenig wie „Work in Progress“, mit spielerischer Freude und Leichtigkeit. Dies trägt wiederum dem Stück Rechnung. Denn Orlando ist, wie es am Schluss heißt, „noch kein fertiger Mensch“, er ist „noch immer im Werden“.