Foto: Estelle Kruger, Kinderstatisterie und Carla Torrisi (Tänzerin) © Sergio Verde
Text:Klaus Kalchschmid, am 1. März 2024
Die Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Fall“ am Schlosstheater in Schwetzingen thematisiert in 13 Szenen den Verfall des menschlichen Lebens. Im Zentrum steht Ellen, die an Alzheimer erkrankt ist – und dennoch ihre Autonomie nicht aufgeben will.
Eine schleichend sich verschlimmernde Krankheit wie Alzheimer, die in verschiedenen Verlaufsformen und unterschiedlich heftigen Schüben auftritt, auf eine Musiktheater-Bühne zu bringen, ist ein Wagnis. Vielleicht gibt es deshalb vor der Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Fall“, was man in Analogie zu seiner Oper „Dark Spring“ (nach Wedekinds „Frühlingserwachen“) mit „Dunkler Herbst“, aber auch frei mit „Tiefer Fall“ übersetzen kann, Video-Einspielungen realer Frauen. Noch bevor ein Ton erklingt oder gesungen wird, erzählen sie vom zunehmenden Gedächtnisverlust naher Verwandter und dem Schmerz, den das auslöst, während im Vordergrund Mädchen spielen.
Dann folgt in 110 Minuten nach dem englischen Libretto von Juliana Spahn und dem Komponisten sowie Joshua Clover (Arientexte) die Geschichte von Ellen, ihrem zweiten Mann Curtis, der Tochter Ilse und Owen, einem gerade arbeitslos gewordenen Freund des Hauses. In ihn verliebt sich Ellen (erneut), da sie ihren Mann wohl immer wieder vergisst. Natürlich löst das Irritationen aus beim Ehemann und die Tochter fühlt sich zurückgesetzt. Dann verschwindet die Mutter plötzlich und am Ende ist nicht klar, ob sie schon gestorben ist, während Ilse ein wenig kitschig versichert: „Wir werden einander helfen, wie wir dir nicht haben helfen können.“ Darauf folgt ein von der großen Trommel dominiertes, gigantisch wie schwarzes Rauschen sich aufbäumendes Cluster, das leise verdämmert. Das ist einer der raren Momente, die eine Dissonanz wagen und nicht rhythmisch pointiert und harmonisch tonal gefasst sind.
Kammermusikalisches und durchnummerierte Arien
Vieles an diesem Abend klingt allzu schön, was die Verstärkung von Sängerinnen und Sängern, aber auch des 13-köpfigen Orchesters unter Leitung von Alan Pierson aus solistischem Streichquintett, Klarinette, Saxophon, Trompete, Posaune, Gitarre, Klavier, Keyboard und Schlagzeug noch betont. Vieles ähnelt sich so in meist gemessenen, wenig kontrastreichen Tempi. Mögliche Finessen der kammermusikalischen Instrumentierung werden eingeebnet oder gehen ganz verloren. Noch mehr als in der Komposition angelegt, rückt die dreiaktige Oper in dreizehn Szenen des seit 20 Jahren in den USA lebenden und in Chicago lehrenden Komponisten in Richtung Musical, auch wenn opernhaft gesungen und statt in Dialogen gesprochen parlando gesungen wird.
Dazwischen gibt es viele ausdrücklich in der Partitur so benannte, durchnummerierte Arien und Ensembles. Deren wohl schönstes, auch in der szenischen Umsetzung, ist die Nr. 10 in Szene 8, wenn Ellen und Owen in seliger Erinnerung sich der herbstlichen Schönheit ihrer Zuneigung versichern. Dazu tanzt ein junges Paar (Carla Torrisi, Giovanni De Busono) in den gleichen Kostümen einen feinen Pas de deux. Die beiden bringen das Kunststück fertig, die meiste Zeit trotz aller virtuosen Bewegung immer im Kuss vereint zu sein (Choreografie: Luches Huddleston jr.). Gelungen ist szenisch wie musikalisch auch das ebenso zentrale humorvolle Quartett Nr. 9, in dem die auf schwarze Regenschirme gemalten Buchstaben A, B, C und D Bezug nehmen auf den Partnertausch in Goethes „Wahlverwandtschaften“. Sie werden hier mehrstimmig euphorisch beschworen als „Elective Affinity!“, während ausgelassen getanzt wird à la „Singing in the rain“.
Ein Minihaus als Gefängnis
Während in Horáková Jolys Inszenierung der Uraufführung von Thomallas „Dark Spring“ im großen Haus des Mannheimer Nationaltheaters 2020 noch vier Waben den Rückzugsort von Moritz, Melchior Wendla und Ilse bildeten (die sich, erwachsen geworden, in „Dark Fall“ auch einmal musikalisch erinnert), gibt es nun ein zentrales kleines Haus in der Mitte der leeren, von ebenfalls weißen Lamellen begrenzten Bühne von Annemarie Bulla, die auch die Kostüme entworfen hat. Diese große Hundehütte besitzt freilich nichts Heimeliges, sondern ist, von zwei Erwachsenen ganz ausgefülllt, eher ein Gefängnis.
Auf den Lamellen an der Seite der Bühne und auf der Rückwand gibt es verschiedenste Projektionen: ein wogendes Feld rosafarbener Blüten, ein riesiges weißes Puzzle, alte Fotos, die Porträts der Protagonisten in verschiedenen Lebensaltern, das Bild der Vergänglichkeit einer Pusteblume, die schnell all ihre Samen im Wind verliert, tanzende Scherben weißer Teller oder die schwarzen Eisenbahnschienen, auf denen die Puppenstube nach vorne und hinten fahren kann (Video: Sergio Verde).
Estelle Kruger ist mit wunderbar gehaltvollem Sopran, für den Thomalla die schönsten, emphatischsten Melodien komponiert hat, ebenso wie darstellerisch als Ellen das Zentrum der Aufführung. Die etwas herbe Tochter Ilse wird von Altistin Lila Chrisp rollendeckend verkörpert, während Thomas Berau mit reifem Bariton in Charme und menschlicher Zuneigung den Curtis von Uwe Eikötter übertrifft. Auch er bleibt, ganz seiner Partie verpflichtet, tenoral etwas spröde und verdruckst.
Seit seiner ersten Oper „Fremd“, einer faszinierend herben Medea-Oper (Stuttgart 2011), über „Kaspar Hauser“ (Freiburg 2016) und „Dark Spring“ (Mannheim 2020) ist Thomallas Musiktheater in jeder Hinsicht – auch was das Libretto angeht – immer „amerikanischer“ geworden, mit allen Licht- und Schattenseiten, die diese Popularisierung mit sich bringt.