Foto: 'Großbürgerliche' Leere mit dekorativem Orchester. Im Vordergrund Barbara Hannigan (Mélisande), Franz-Josef Selig (Arkel) © Ben van Duin / Ruhrtriennale 2017
Text:Andreas Falentin, am 19. August 2017
Selten war ein besser zusammengestelltes Sängerensemble in „Pelléas und Mélisande“ zu erleben. Dazu dirigiert Sylvain Cambreling das ihm sehr vertraute, überaus komplexe Stück mit unprätentiösem Selbstverständnis, lässt der filigranen Poesie dieser einzigartigen Oper genauso ihren Raum wie der untergründig heraufdämmernden Moderne und zudem deutlich wie selten hören, wie sehr Debussy von und aus seiner Auseinandersetzung mit Wagner kommt. Dazu sind ihm die Bochumer Symphoniker wache, enthusiastische Partner.
Und doch geht der Zuschauer der Eröffnungsproduktion von Johan Simons‘ dritter und letzter Ruhrtriennale nicht glücklich nach Hause. Denn Krzystof Warlikowski scheint sich für dieses Stück, diese Musik nicht wirklich zu interessieren. Er bricht sich die drei Protagonisten heraus, hat offensichtlich ihre Haltungen, ihr Verhältnis zueinander zum alleinigen Zweck und Ziel seiner Inszenierung gemacht. Das Orchester am Ende des Bühnenraums, umgeben von einer hochherrschaftlich geschwungenen Treppe ist ihm Objekt und Staffage, die Musik in erster Linie Soundtrack. Sie liefert ihm Atmosphäre, allenfalls Struktur. Malgorzata Szczesniak hat in der Bochumer Jahrhunderthalle Parkett verlegt. Rechts daneben befindet sich eine hallenhohe Holzwand mit drei Türen, links ein metallisch kühles Café. Dahinter eine Reihe von Waschbecken. Hier dreht Pelleás die Hähne auf und spielt ‚Brunnen‘. Hier waschen sich Hilfsschlachter mit blutüberströmten Schürzen in jenem Moment, wo bei Debussy eine Schafherde vorüberzieht. Ein Witz?
Im Programmheft wird die symbolistisch verkorkste Familienaufstellung um den alten König Arkel immer wieder als ‚großbürgerlich‘ bezeichnet. Dafür werden Manns ‚Budenbrooks‘ und Viscontis „Die Verdammten“ zu Zeugen angerufen. Auf der riesigen Bühne ereignet sich aber nur Leere mit auf- und abmarschierenden Dienstboten. Eine Dynamik des Verfalls wird in keinem Moment erlebbar. Franz-Josef Selig darf einen Anzug tragen und überwältigend schön singen. Eine Instanz darf sein Arkel, der durch sein schier endloses Weiterleben die Familie lähmt, nicht sein, nicht einmal alt. Ähnliches gilt, rollenbedingt auf etwas niedrigerem Niveau, für die Genevieve der Sara Mingardo. Warlikowski scheint egal zu sein, ob sie uns interessieren oder nicht.
Er beginnt den vierstündigen Abend mit einem von Leigh Melrose, dem Darsteller des Golaud, in englischer Sprache hervorragend gesprochenen, willkürlich anmutenden Prolog, der die Überzeitlichkeit und Heutigkeit des Geschehens behauptet. Dies versucht der Regisseur einzulösen, in dem er alle drei Protagonisten deutlich zu narzisstischen Figuren formt, die in sich gefangen sind, dieses sadomasochistisch auskosten und an sich verbrennen. Die ihr Ich absolut setzen und allenfalls momentweise daraus ausbrechen. Die ein fremdbestimmtes Leben führen, aber nicht einmal daran denken, daraus auszubrechen, allenfalls in dem sie trinken und immer, immer wieder Theaterzigaretten rauchen. Die wieder unfassbar faszinierende, ausdrucksinnig singende Barabara Hannigan ist als Mélisande ganz aufs Körperliche fixiert, sucht von Anfang an Sex in Golaud, spielt mit Pelléas mit dem gleichen Ziel, zieht sich während des Familienessens die Lippen nach, um ihre Attraktivität auch nicht für einen Moment zu verlieren, lässt Hüllen fallen, ist dann wieder ganz alternde, Alter verbergende Diva. Phillip Addis, der mit seinem hellen, für diese Rolle überraschend kernig klingenden Bariton, vor allem die Dynamik der Pelléas – Partie voll ausschöpft, sieht, eine von vielen Film-Anspielungen, aus wie Julian Sands in „Zimmer mit Aussicht“ und spielt einen eleganten, lebensfernen Dandy, lässt der Figur aber eine in diesem Kontext krankhaft anmutende Kindlichkeit. Leigh Melrose schließlich ist ein zerrissener Golaud mit langem schwarzen Bart, der sich offensichtlich ständig selbst verstümmelt, in dem er gegen Wände rennt. Ständig blutet er an der Stirn. Als er verbunden wird, sieht er aus wie ein fanatischer Moslem, was sicher gewollt ist. Musikalisch bietet er, trotz nicht eben riesiger Stimme, ein faszinierendes Spektrum. Szenisch hat er durchgängig mit energetischem Überdruck zu agieren.
Nach spätestens einer halben Stunde kennt man diese drei durchaus plastisch, aber eben statisch gezeichneten Figuren. Danach zieht sich der Abend, nach der Pause schier endlos, zumal Hannigan und Addis die lange, vorletzte Szene an der Bar zu spielen haben, mit dem Rücken zum Publikum, begleitet von einer Kamera, die nur die reagierende Mèlisande, nicht aber Pelléas zeigt, warum auch immer. Das von viel Prominenz durchsetzte Publikum reagierte widerspruchslos, aber nicht ohne Müdigkeit.