Foto: die Möwe © xy
Text:Manfred Jahnke, am 25. November 2018
Der in Bosnien geborene und in Kroatien aufgewachsene Oliver Frljic gilt als einer der wichtigsten politischen Regisseure der europäischen Theaterszene, der sich durch seine packenden Zugriffe von Stücken und Stoffen auszeichnet. Ein solcher Zugriff ist ihm nun auch bei Shakespeares „Romeo und Julia“ gelungen. Wenn der Vorhang sich hebt, stehen sich Tybald (David Müller) und Romeo gegenüber mit den Texten aus der berühmten Erkenntnisszene zwischen Romeo und Julia. Mit einem Schlag ist die ganze Genderdebatte ins Bild gefasst. Beide umarmen sich, ziehen sich aus und trennen sich gar nicht mehr zärtlich, als Romeo gesteht, dass er eine Frau liebt. Das Spiel zwischen zärtlichem Angezogen- und aggressivem Abgestoßensein, auch das ein Motiv, das sich durch die gesamte Inszenierung zieht. Dann werden Grabsteine in den Raum gerollt, zwei schlichte Holzsärge hereingetragen. Im Halbdunkel huschen dunkle Gestalten herum, und Pater Lorenzo (Thomas Meinhardt) fasst kurz die Rolle, die er in dieser Geschichte spielt, zusammen. Dann trägt auf einem hohen Gestell Sandra Hartmann „Killing me softly“ vor, Rauch quillt, Discobeleuchtung, kurz, das ist das Fest, bei dem sich die beiden kennenlernen. Und im Hintergrund bleibt im Dunkel der Friedhof zu sehen.
Frljic geht davon aus, dass das Publikum zumindest im Groben diese Geschichte kennt. Er erzählt sie vom Schluss her und spürt dabei der Frage nach, was hat diese Personen geformt, dass sie so geworden sind, wie sie sind? Darin enthalten ist die Frage nach der geschlechtlichen Identität. Der Regisseur zeigt seine Figuren vor dem Spiegel in ihren narzisstischen Befangenheiten, aber auch wie Erziehung ein Verhalten produziert, dass jede Berührung in einen aggressiven Akt umschlagen lässt. Er konzentriert sich dabei auf die Geschichte der Capulets, die Mutter (Gabriele Hintermaier) und vor allen Dingen den Vater, den Klaus Rodewald zur Studie des „autoritären Charakters“ (Adorno) ausweitet. Beide verschachern ihre Tochter wie eine feile Ware an den Grafen Paris (Benjamin Pauquet). Frljic findet dafür schöne Bilder, wenn die Gräfin ihn mit Pralinen füttert oder Capulet ihm den Bart krault. Perfide Aktionen der Eltern, die eine Vierzehnjährige gegen ihren Willen verheiraten wollen.
Im Großen wie im Kleinen findet Frljic großartige Bilder. Szenisches Halbdunkel (Licht: Jörg Schuchardt) taucht die Bühne von Igor Pauska ein, die sich mit wenigen Gegenständen begnügt, den beiden Särgen, zwei auf- und abfahrenden Spiegeln, fünf Grabsteinen und eine an orthodoxe Kirchenarchitektur erinnernde, bespielbare „Plastik“. Zusammen mit den Renaissance-Kostümen von Sandra Dekanic ergeben sich im Zusammenspiel von Licht und Bild wunderschöne geheimnisvolle Bilder, die sich noch steigern, wenn im Spiegel sich die Figuren in schönen Bildern vermehren. Oder wenn die merkwürdigen Gestalten aus dem „Hölle“–Teil von Hieronymus Bosch’ „Garten der Lüste“ schemenhaft auftauchen, die das Unheimliche der Handlungen auf der Bühne betonen. Nicht den „Garten Edens“ und auch nicht die schöne Liebesutopie des „Paradieses“ regiert diese Welt, sondern die Hölle. Wenn Liebe und Tod schon immer mythologisch eng verbunden sind, wird das hier konkret. Da ist eine große Sehnsucht, aber man findet keine wirklichen Berührungen: Nicht nur die Rache, auch der Narziss verhindern das Paradies. Das zu spielen, gelingt Nina Siewert als Julia mit herbem Charme, großen körperlichen Einsatz und Bitternis. Jannik Mühlenweg spielt den Romeo als Getriebenen, der seine eigene Identität noch nicht gefunden hat. Christoph Jöde als Mercutio und Valentin Richter als Benvolio übernehmen den eher komischen Part von Rosenkrantz und Güldenstern. Eberhard Boeck als Fürst und Frank Laske als Montague ergänzen das tolle Ensemble.
Wenn auch vom Bild her das historische Renaissance-Kostüm regiert, so verdeutlicht die „nervöse“ Spielweise mit ihren vielen Brüchen eine ganz und gar heutige Untersuchung über das Bild des Narziss. Eine mitreißende Inszenierung.