Dank Christian Gerhaher ging das auch ohne das wohlfeile Seufzen eines „früher-war-alles-besser“ in Bezug auf die Besetzung der Titelpartie über die Bühne. Der Weltklassebariton gehört zu den wenigen legitimen Nachfolgern des Uraufführungs-„Lear“ Dietrich Fischer-Dieskau, dem Reimann diese Partie ja in die Kehle komponiert hatte. Der vokale Luxus geht aber weiter und umfasst mit Angela Denoke und Ausrine Stundyte als die beiden Töchter-Furien Goneril und Regan, sowie mit der längst in die Spitzenriege nachgerückten Hanna-Elisabeth Müller als gute Tochter Cordelia ausnahmslos alle Frauenrollen. Aber auch Georg Nigl als Graf von Gloster und seine beiden Söhne Edmund und Edgar sind bei Counter Andrew Watts und Tenor Matthias Klink in den denkbar besten Kehlen. Sie sorgen für ein Fest der stimmlichen Prachtentfaltung, für das Jukka-Pekka Staraste am Pult des Bayerischen Staatsorchesters die besten Voraussetzungen schafft.
Da Reimann mit seinem expressiven und zugleich ergreifenden Ton für existenzielles, menschliches Leiden über einem Abgrund von Verrat und Irrtum mit einem imponierenden Klanggewölbe in den Bann zieht, bleibt auf der Bühne genügend Raum, um die Geschichte des alten Vaters und seiner drei Töchter als Studie über die Macht und ihren Verlust oder übers Altern und den Tod zuzuspitzen.
Beim Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler und seiner Raumerfinderin Anna Viebrock mag das vielleicht auch mitgespielt haben. Shakespeares Vorlage besteht auch in der Libretto-Version von Claus H. Henneberg auf ihrer autonomen Kraft. Selbst dann, wenn Marthaler daraus eine Nacht im Museum macht. Oder eine Exkursion ins Naturalienkabinett eines schrulligen Sammlers, der von der Fiktion besessen ist, dass sich die eigenen Nachkommen so erwartbar verhalten, wie seine toten Artefakte. Mit dem Raum hat sich Viebrock bei sich selbst bedient und – so sagt sie es im Programmheftinterview – die Bühne von „20th Century Blues“ recycelt, für das das Basler Naturkundemuseum als Vorlage diente.
Die Einheitsbühne ist ein hoher Raum mit großen Oberlichtern in den Dachschrägen, riesigen Vitrinen, für den Transport von Großobjekten, geeigneten Türen und einer Galerie von der sich der sprichwörtliche Blick von oben zelebrieren lässt. Hier werden von einem schlurfigen Bediensteten vor dem Beginn und nach dem Ende der eigentlichen Oper auch mal Gäste herumgeführt. Hier lümmelt das Marthaler Faktotum Graham Valentine mit Zottelfrisur und dürren, nackten Waden herum und steuert mit schnarrender Stimme die Weisheiten des Narren bei. Hier ist die Sippschaft Lears zu Beginn wie im Wachsfigurenkabinett ausgestellt. Hier werden Holzkisten samt Personal mal herein- oder herausgekarrt. Hier marthalert die Szene so vor sich hin und schert sich allenfalls im Detail individueller Verzweiflungsausbrüche mal unmittelbar um das musikalische Wogen im Untergrund.
Die machtgierigen Töchter sind taffe Ladys mit Handtaschen und Ehemännern als Accessoire. Intrigant Edmund trägt sprechendes Neidgelb mit Rollkragen. Die Kostüme von Dorothee Curio folgen insgesamt eher dem Marthaler-Viebrock-Sound als einem Königsdrama. Dezenten Witz entfalten sie, wenn der dem Wahnsinn verfallene (oder eben aus ihm auf seine Weise erwachte) Lear seine Hosen eingebüßt hat und nur mit einem ordensbehangenen Jackett bekleidet ist. Im Grunde steht die Museumsmetapher auch für die Inszenierung als methodische Selbsterklärung. Beim eigentlichen Drama verlässt man sich besser auf das, was man eh schon über die Geschichte weiss.
Ein vom Publikum einhellig bejubelter Opernabend war dieser „Lear“ dennoch.