Für „Voix humaine“ hat das Produktionsteam drei hervorragende Entscheidungen getroffen. Der Bühnenbildner Lars Peter hat als Schauplatz die Abflughalle eines Flughafens entworfen, einen hochzivilisierten Ort der Einsamkeit in der Menge also. Man spielt Wolfgang Binals leicht bearbeitete Übersetzung von Jean Cocteaus Libretto und man hat die einzige Rolle mit Tanja Kuhn besetzt. Diese großartige Interpretin sorgt nicht nur dafür, dass jedes einzelne Wort übertitelfrei zu verstehen ist, sie hat auch die ideale Stimme für die Partei: einen jugendlich-dramatischen Sopran mit flüssiger Mittellage und leicht anspringender, aber expansionsfähiger Höhe. Und sie setzt ihre Sprechstimme ein wie eine Schauspielerin. Man hängt an ihren Lippen, man trauert mit ihr um ihr Leben, da hätte das eine oder andere realistische Regie-Einsprengsel, etwa das tete a tete mit dem Kaffeeautomaten, sogar gerne unterbleiben dürfen.
Schließlich verschwindet unsere Protagonistin aufs Klo. Und es ereignet sich eine charmante, kleine Liebesgeschichte zwischen Reinigungskräften. Wir sind im „normalen Leben“ zurück. Das wird hier eingerahmt von Auszügen aus Haydns Oratorien. In der Mitte gibt es einen kurzen Block mit Chormusik von Anton Bruckner und Georg Philip Telemann. Der Rest ist Bach, vor allem Musik aus den Kantaten.
„Bach Air“ steht auf den Shirts der Service-Kräfte. Man bekommt Angst vor brachialem Teutonenhumor, die gütigerweise nur zu einem sehr kleinen Teil berechtigt ist. Wolfgang Hofmann verlangt viel von den sechs Solisten und 18 Chorsolisten, die diesen Teil gestalten. Die Personenführung ist ausgefeilt und anspruchsvoll, der Witz fragil, aus elegantem Slapstick kann nur zu leicht plumper Klamauk werden. Und diese kostbare Musik verzeiht kein Wackeln, kein Kämpfen nichts.
Wir schauen Menschen zu, die auf einen Abflug warten und sich die Zeit vertreiben, sich langweilen, unzufrieden sind, sich erleichtern oder etwas trinken wollen. Die kleinen Dinge des Lebens, die oft schon schwer sind, weil sie nicht klappen. Und wo keiner Verständnis hat, wenn man sich gerade darüber aufregt. Wo doch anderswo gehungert, gefoltert, gestorben wird. Diese kleinen Stürze aus dem Gleichgewicht thematisiert der zweite Teil von „Glaube. Liebe. Abschied“, sicher geführt von Florian Ludwig und dem Philharmonischen Orchester Gießen. In beiden Teilen ist Ludwigs Zugriff durchaus robust, aber klar und differenziert strukturiert. Es wird in jedem Moment empathisch strukturiert. Und Chor und Solisten nutzen diese Vorgabe hingebungsvoll, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die Damen mit ihren musikalischen Aufgaben besser zurecht kommen als die Herren. So setzt Isabelle Rejall ihren reizvoll dunkel getönten Mezzo nicht nur mit der gebotenen Schlichtheit und Expressivität ein, sie spielt auch noch eine Flughafenangestellte als Slapstick-Charge, als fleichgewordenes Murphy’s Law und eine absurde Existenzialisten-Mami, als hätte sie nie etwas anderes getan. Naroa Intxausti wickelt uns mit ihrem lyrischem Sopran-Charme um einen Haufen kleine Finger und Paola Alcocer Crespo spielt und singt als türkische Automatenauffüllerin geradezu hinreißend natürlich. Bei keinem sitzt jeder Gag, einfach, weil es zu viele sind, weil zu viele Ebenen bedient werden, weil momentweise die Musik zur Nebensache wird. Aber man hört und sieht gerne zu. Weil Leidenschaft im Saal ist, weil alle offenbar gern tun, was sie tun, weil der Gegenstand tatsächlich relevant ist – und weil das Timing (fast) durchgängig stimmt. Eine große Leistung für ein nicht sehr großes Haus.
Am Ende kann das Flugzeug endlich starten. Alle haben sich wieder eingekriegt. Die Blasen sind geleert, die Mägen gefüllt, die Fotos gemacht, das seelische Gleichgewicht scheint wiedergefunden. Alle zücken ihre Bordkarten und verlassen die Bühne. Nur die Frau vom Anfang nicht. Sie bleibt in sich gefangen, kann sich nicht abfinden, nicht in der Menge verschwinden. Es gibt eben keine Patentlösungen, nicht einmal bei Johann Sebastian Bach.
Spaß hat’s gemacht in Gießen, weihnachtlich war’s irgendwie schon, sogar mit Slapstick-Kunstbaum, aber nicht verlogen, weit über Kitsch-Niveau und mit heißem Herzen.