Text:Andreas Falentin, am 3. April 2019
Wer viel probiert, bietet viel Angriffsfläche. „Castor&&Pollux“ heißt das Projekt, mit dem der Dramaturg Jim Igor Kallenberg, die Regisseurin Lisa Charlotte Friederich und der Musik-, Klang- und Videodesigner Lukas Rehm versuchen, wenn schon nicht das Musiktheater neu zu erfinden, ihm zumindest eine neue Spielart, ein neues Genre beizufügen. Das ist, bei viel Unausgegorenem auf allen Ebenen, in erster Linie anregend.
Ein großes Pfund, mit dem die Produktion, eine Art Flaggschiff des LAB, des Experimentierlabors des Heidelberger Frühling, wuchern kann, ist die Wahl des Veranstaltungsortes und der Umgang mit diesem. Die Aula der Alten Universität Heidelberg, im 18. Jahrhundert erdacht wie die hier zugrunde liegende Oper von Jean Philippe Rameau, ist ein eindrucksvolles geschlossenes, fast sakral wirkendes innenarchitektonisches System, das den Zuschauer nachgerade in einen Nostalgiekokon einspinnt. Analog hierzu versuchen Lukas Rehm und seine Mitstreiter mithilfe der zur Zeit auch in ersten Kinos installierten, brandneuen 4D-Soundtechnik einen Klangkäfig zu bauen, der die musizierten wie synthetisierten Sounds des Abends in jeden Winkel des so definierten akustischen Raums transportieren kann. Bewegungen der Interpreten modifizieren und gestalten die Klänge, die Klangquellen scheinen zu wandern. Wenn man im Inneren des Käfigs sitzt. Was leider nicht alle tun können, vermutlich, weil der alte Raum nicht komplett klanglich zugerüstet werden konnte, ohne ihn architektonisch zu verändern. So bleiben die auf den Außenbänken sitzenden Teile des Publikums Zaungäste. Sie hören vieles verschwommen und haben Probleme, die gesprochenen Texte zu verstehen. Was allerdings teilweise auch für die Käfiginsassen gilt, etwa in einigen Orchesterpassagen. Da klingen die von Barbara Konrad an sich sehr subtil geleiteten Rossetti Players mal schwammig, mal klumpig, mal schrill. Was, abgesehen davon, dass die bekanntermaßen hochkomplex zu bedienende Naturtrompete keinen Sahnetag erwischt hatte, eindeutig an der Klangübertragung lag und nicht an der Qualität der musikalischen Interpretation. Ähnliche Beobachtungen beim achtköpfigen Sängerensemble: Es überzeugt uneingeschränkt im Zusammenklang, aber mehrere der wenigen Sologesänge ertrinken im neuartigen Klangraum.
Auf der Theaterebene erwies sich die Alte Aula dann allerdings doch als der erwartete genius loci. Rehm, Friedrich und Kallenberg verwenden Rameaus Oper als klangliches Fundament und geistiges Sprungbrett für eine Vorlesung über Zukunftsphantasien. Die Dioskuren-Zwillinge, der sterbliche Castor und der unsterbliche Pollux, die auch durch Tod getrennt nicht voneinander lassen können, werden als ein Mensch betrachtet. Durch Castors Tod löst sich das Bewusstsein vom Körper, so hier die Setzung, die zur fast rauschhaften, audiovisuellen Artikulation einer Gedankenmasse über die Zukunft führt.
Was könnte das sein, Singularität? Werden wir demnächst alle unsterblich, indem wir unser Bewusstsein in irgendeine Cloud hochladen, bevor unsere Körper endgültig verwelkt sind? Wie könnte so ein Ort beschaffen sein? Und vor allem: Wer könnte ihn nutzen? Um diese Fragen zu stellen, Antworten anzureißen, Ängste zu artikulieren, fanatische bis arrogante Wissenschaft samt Fatalismus zu präsentieren, wabern sprechende Menschen über Bildschirme, eingeleitet und kontrastiert durch Naturphotographie, mehrfach unterbrochen durch eine diffuse, effektvoll bebilderte, aber kaum verständliche filmische Nebenhandlung, laut Programmheft eine „Metanarrativblackbox“.
Vieles, was die Posthumanismus-Philosophin Janina Loh, der Soziologe Dirk Baecker, der Tierrechtler und Buchautor Fahim Amir, der verstorbene Physiker und Leiter des Heidelberger Human Brain Project Karlheinz Meyer und der Journalist und Ordenspriester Bruder Paulus Terwitte äußern, rauscht vorbei, einiges hakt sich fest und befruchtet durchaus die minimalistische Bühnenaktion. Auch diese bleibt schon einmal im Ungefähren, beeindruckt andererseits aber durch die Konzentration des Ensembles samt unprätentiösem Körperspiel. Sowie durch ein klares Bekenntnis zum Erzählen. Was sowohl für den Mythos an sich gilt, wie für seine Weiterschreibung ins Heute. Hierfür müssen die als Sänger ausgebildeten Darsteller sprechen. Was ganz erstaunlich gelingt, gerade im Vergleich mit handelsüblichen „Zauberflöten“-Repertoireaufführungen an deutschen Stadttheatern. Besonders die französische Mezzosopranistin Natalie Peréz und der finnische Bassbariton Jussi Juola, die auch musikalisch herausstechen, nehmen mit ihrem rein sprachlichen Vortrag gefangen.
So ist „Castor&&Pollux“, trotz technischer Schwächen auf allen Ebenen und manchen Momenten geradezu schmerzlicher Naivität, ein, wie eingangs bereits konzediert, anregender Abend, veredelt mit Inseln von Klangmagie.