Foto: Szene mit Itziar Lesaka, Alexander Tremmel, Raphael Pauß, Katrin Hübner und Markus Vollberg © Silke Winkler
Text:Heinz-Jürgen Staszak, am 14. März 2016
Am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin ist, fast unbemerkt, ein Biotop für die moderne Gegenwartsoper gewachsen, vornehmlich anglo-amerikanischer Provenienz. Hier wurden in den letzten Jahren etwa „Der Leuchtturm“ (2001) und „Eight Songs for a Mad King“ (2010) von Maxwell Davis oder „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt“ (1998) von Michael Nyman oder „Der blonde Eckbert“ (2011) von Judit Weir aufgeführt, dazu Kurz- und Kammeropern von Wolf-Ferrari und Reimann, von Holst und Britten, von Poulenc und Milhaud, aber auch Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ (1993) oder Frids Anne Frank-Oper (2009), zuletzt „Dead Man Walking“ (2014) von Jake Heggie –für ein klassisches Stadttheater in einer nur 100000-Einwohner-Stadt eine bemerkenswerte Leistung in stabiler Regelmäßigkeit.
Jetzt hat das stets experimentierbereite Schweriner Ensemble, nur zwei Wochen nach der europäischen Erstaufführung in Bielefeld, die amerikanische Kammeroper „Dog Days (Tage des Hundes“ von David T. Little (37) produziert. Als sie vor gut drei Jahren in New York als freies Opernprojekt uraufgeführt wurde, hat sie sogleich Aufsehen erregt. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Oper als bahnbrechender amerikanischer Klassiker bestätigt wird“, schrieb die „New York Times“ damals. Möglicherweise hat sie Recht, wie auch die Schweriner Inszenierung in ihrer künstlerisch überzeugenden Qualität zeigen könnte. In zweierlei Hinsicht werden hier die bahnbrechenden Eigenschaften sichtbar gemacht.
Zuerst, wie es sich für eine Oper gehört, musikalisch. Littles Musik ist von origineller Eigenständigkeit und musikdramatischer Energie, die eine Handlung nicht nur akustisch begleitet, steile Avanciertheit wie anbiederische Gefälligkeit gleichermaßen vermeidend. Zwar ist auch sie, wie heute meist üblich, aus den marktüblichen Stilen von Klassik und Opernidiomen bis zu Pop und Rock, ja bis zu finsteren Heavy-Metal-Elementen gemixt. Aber sie verbleibt nicht im trostlosen Eklektizismus, in dem der eine Stil nur Trittbrettfahrer des anderen ist, um an dessen Erfolg zu partizipieren. In der Mixtur liegt hier die Neuheit, denn Little gelingt die Synthese zu einer unverwechselbaren Tonsprache: energisch, wild und kantig gleichermaßen wie in schwingenden kantablen Linien, in faszinierenden, zuweilen magischen Klangmixturen aus vier Streichern (Violine, Bratsche, Cello, Kontrabass), Klarinette, Klavier und aus vielfältigem Schlagwerk und E-Gitarre, die hier unter der Leitung von Martin Schelhaas, dem Schweriner Spezialisten für solche Aufgaben, stets fesselnd dargeboten wird. Und auch die vokalen Strecken bieten in ihrer nicht anstrengungslosen, aber stets wirksamen Sanglichkeit alles, was zu einer Oper gehören sollte, weit ausgreifende reflektierende Arien, dramatisches Dialog-Parlando wie eindrucksvolle Ensemblesätze, immer als Amalgam von wohl gesetztem Opernstil und aufrauender Modernität. Zudem wird jede der instrumentalen und vokalen Stimmen elektronisch verstärkt, was akustisch gar nicht nötig wäre, aber Partiturvorschrift ist und dem Sound kühle Fremdheit gibt.
Diese Musik erwächst aus einer dramaturgisch geschickt gebauten, allmählich immer fesselnder werdenden Handlung (Libretto von Royce Vavrek nach einer Kurzgeschichte von Judy Budnitz), die den Mythos von der Familie als einzig garantierten Hort sozialer Geborgenheit auf den Prüfstand stellt. Zwei Szenen klammern diese Handlung, sich leitmotivisch doppelnd. Eine von ihnen ist das rituelle familiäre Tischgebet: „Glücklich die Familie, die gemeinsam am Esstisch sitzt“, singen Mutter und Vater, die beiden Söhne und die jüngste Tochter Lisa im Choral. Aber auf dem Tisch steht weder genug, um den Hunger zu befriedigen, noch ist diese Familie glücklich.
Denn diese Familie wird hier gleichsam in eine experimentierende Petrischale platziert und extremen Bedingungen ausgesetzt. Es ist eine postapokalyptische Notstandssituation, die unsere Zukunft sein könnte, die fiktive Zeit nach einem globalen Krieg: die menschliche und die natürliche Welt sind zerstört, die Institutionen zerbrochen, die Versorgungseinrichtungen blockiert, die haltende soziale Infrastruktur ist ausgelöscht. Die Familie, auf sich allein gestellt, versucht, den längst Illusion gewordenen menschlichen Zusammenhalt aufrecht zu erhalten, scheitert zunehmend und zerfällt, denn sie können nicht einmal mehr ihre kreatürlichen Bedürfnisse befriedigen. In der Form des Hungers schleicht der unaufhaltsame Untergang heran – ein beklemmendes Endzeitspiel, in dem sich unabweislich die Frage erhebt: Unter welchen Bedingungen reißt der Firniss der Menschlichkeit?
Und die Antwort ist krass und deutlich. Dabei kommt der das Haus umstreunende Hund ins Spiel, zugleich theatralische Wirklichkeit wie Symbol. Lisa erkennt sogleich, dass dies ein Mensch (hier sogar eine Frau) ist, der, um in solcher Zeit zu überleben, gleich auf sein Menschsein verzichtet und sich als Hund verkleidet hat – und sie wirft all ihre solidarischen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung auf ihn. Aber auch die anderen begreifen dies bald, wenngleich sie sich weiterhin bedrängt und beunruhigt von ihm fühlen. Eine heimliche Parallele zu Kafkas „Verwandlung“: In beiden Fällen lässt, wenn auch in unterschiedlicher Weise, ein zum Tier verwandelter Mensch die familiale Solidaritätsstruktur implodieren. So hat diese Oper tatsächlich die bahnbrechende Qualität eines zeitgemäßen modernen Musikdramas: den unverstellten sozialkritischen Biss in einer existenziellen Fragestellung, in ihrem Aufstieg von nur scheinbar biederem Naturalismus zu herausfordernder symbolischer Parabelhaftigkeit auch den (für eine Oper) notwendigen Schuss an Künstlichkeit und Geheimnis.
Die Inszenierung von Cristiano Fioravanti – in gelungener Ausstattung von Alexandre Corazolla, gleichfalls balancierend zwischen Naturalismus und karg-abstrakter Zeichenhaftigkeit – folgt dieser kunstvollen Ambiguität sehr genau, aber behutsam, ohne schrille „Blut und Tränen“-Ausbrüche, in deutlich erzählenden Arrangements. Und sie erzeugt so den Rahmen für die spielfreudigen Sängerdarsteller, die ihre musikalischen Partien mit hoher Intensität ausstatten – Katrin Hübner als lyrisch-expressive Lisa, Itziar Lesaka als wissende, aber sorgende Mutter, Markus Vollberg als überforderter depressiver Vater, Raphael Pauß und Alexander Tremmel als faule, nur noch kiffende Lümmelsöhne und Sophie Maeno als geheimnisvoller (und stummer) Dogman.
Für den Eintritt der endgültigen Katastrophe hat man hier eine schockierende bildkräftige Lösung gefunden – schlagartig versinken Welt und Familie nur noch im eigenen Müll. In der verzweifelten Gewissheit des tödlichen Hungers erinnert man sich daran, dass in China Hunde gegessen werden. „Holt mein Gewehr!“, sagt der Vater, jener Satz, den er schon am Beginn sagte, um den streunenden Hund zu erschießen – und die zu Tieren in Menschengestalt gewordenen Männer töten nun den Menschen in Tiergestalt, um ihre biologische Fortexistenz zu sichern. Der dünne Firniss ist vollends gerissen. Und auch der von der Regie angeleimte hoffnungsgläubige Schluss kann dies nicht völlig verbergen, denn er wird zu einem instrumentalen Epilog veranstaltet, der sich in schleichender, bedrohlich zitternder Klanglichkeit zum unerbittlichen Inferno aufgipfelt.