Foto: © Karl und Monika Forster
Text:Guido Krawinkel, am 29. September 2024
Aus einer unglimpflichen Konstellation aus Personen, die mit Traumata zu kämpfen haben, besteht die Premiere „Innocence“. Elisabeth Stöppler und Valtteri Rauhalammi bringen ein Ensemble und das Orchester zusammen, das unter die Haut geht.
Am Ende ist es nur ein kleiner Zufall, der alles ins Wanken bringt und die alles verändernden Fragen stellen lässt: Hätten sich die Ereignisse verhindern lassen? Wer hätte es verhindern können? Und: Wer ist hier wirklich ohne Schuld? Aber erst mal von Anfang an: Das Szenario in Kaija Saariahos Oper „Innocence“ verknüpft mehrere Zeit- und Handlungsebenen. Da ist ein Treffen von Opfern eines Schulmassakers, die sich 10 Jahre danach zum Gedenken an die Ereignisse versammeln. Parallel findet eine Hochzeit statt, pikanterweise am gleichen Ort und – da wären wir bei besagtem „Zufall“ – mit einer personalen Schnittmenge. Der Bräutigam ist der Bruder des Attentäters, der das Schulmassaker verübt hat. Auf seiner Hochzeit kellnert die Mutter einer Schülerin, die damals ermordet wurde, weil sie kurzfristig für eine kranke Kollegin einspringt. Die Braut weiß von der Vorgeschichte nichts – was die Spannung noch zusätzlich steigert.
Individuelle Stimmen über Trauma
Keine Frage, das Thema der im Gelsenkirchener Theater im Revier als deutsche Erstaufführung zu sehenden Oper Saariahos ist brandaktuell. Und spannend ist es auch umgesetzt. Zwar plätschert das Stück im ersten Drittel zuweilen etwas langatmig dahin, wenn sich alle Beteiligten erst mal ausführlichst ihre Befindlichkeiten erzählen, doch am Ende weiß man: hier wird die dramaturgische Saat für ein furioses Finale gelegt, dessen Spannung bis zur unausweichlichen Katastrophe immer weiter steigt. Dazu trägt nicht nur die personelle Konstellation bei, auch die Tatsache, dass Saariaho den Opfern eine Stimme gibt, eröffnet neue Perspektiven. Die kommen in verschiedenen Rollen und jeweils in ihrer Muttersprache zu Wort, mal als Sprechgesang, mal als Gesangsrolle. So bekommen alle ihre auch sprachlich individuelle Stimme, wenn sie von ihren Traumata erzählen, wohingegen alles andere auf Englisch gesungen wird.
Margot Genet, Hanna Dóra Sturludóttir, Erika Hammarberg. Foto: Karl und Monika Forster
Die von Elisabeth Stöppler inszenierte Umsetzung gelingt in Gelsenkirchen äußerst spannungsvoll. Saariahos Opernkrimi wird mit stetig steigender Anspannung umgesetzt und lädt dazu ein, noch lange hinterher über eine Fülle von Bedeutungsebenen und Details zu sinnieren – etwa über die Bühne (Ines Nadler), die zunächst von einem rechteckigen Kubus dominiert wird, in dessen Hintergrund groß der programmatische Titel der Oper prangt. Dieser Kubus rückt mehr und mehr in den Hintergrund und gibt dem sich Bahn brechenden Drama Raum.
Musikalisch wird das durch Saariahos Musik gespiegelt, die zum einen unglaublich sphärisch und feingliedrig sein kann, zum anderen aber auch brutal, heftig, markerschütternd. Hier leistet die Neue Philharmonie Westfalen Außerordentliches, die von dem alles koordinierenden Valtteri Rauhalammi bestens zusammengehalten wird. Musik und Drama verbinden sich hier mit einer Intensität, die zuweilen beklemmend wirkt und – unterstützt durch die Inszenierung – die Spannung bis zum Schluss hält. Dann ist die Katze endlich aus dem Sack und vieles erscheint in einem anderen Licht.
Überragendes Orchester und Ensemble
Nicht nur das Orchester ist ein großes Plus der Gelsenkirchener Inszenierung, auch das gesamte Ensemble trägt zu dieser unter die Haut gehenden Aufführung bei. Zum einen ist da das exzellente, von Sebastian Breuing einstudierte Chorwerk Ruhr, das das Geschehen wie in einer griechischen Tragödie kommentiert und erst am Ende seine Plätze und damit seine übergeordnete Perspektive verlässt. Zum anderen ist da ein Ensemble, in dem alle Rollen durchweg ausgezeichnet besetzt sind, allen voran Khanyiso Gwenxane als Bräutigam, der stimmlich wie schauspielerisch eine großartige Intensität zeigt, und Erika Hammarberg als tote Schülerin Markéta, die Tochter der Kellnerin, die mit ihrer von finnisch-karelischer Folklore geprägten Naturstimme die Unschuld verkörpert.
Neben diesen beiden herausragenden Leistungen des Abends fallen aber auch Hanna Dóra Sturludóttir als Kellnerin Tereza und Margot Genet als Braut neben Katherine Allen als Schwiegermutter, Benedict Nelson als Schwiegervater, Philipp Kranjc als Priester oder Anke Sieloff als Lehrerin neben dem gesamten Ensemble positiv auf. Weniger überzeugend fällt nur die von der Komponistin vorgeschriebene Mikrofonierung der Solorollen und des Chores auf. Die intendierten Soundeffekte entpuppen sich als weitgehend wirkungsloser Zauber, ein Zauber, den das intensive Stück auch Dank der Inszenierung und der ausgezeichneten Ensembleleistung eigentlich nicht nötig hätte.