Gefühlslust in Magdeburg
Regisseurin Kai Anne Schuhmacher fand es toll, „dass man mehrdimensionale Charaktere entwickeln kann“, was in der Barockoper aufgrund häufiger Arien-Stillstände mitunter schwerfällt. Sie füttert das dafür überaus empfängliche Ensemble für 180 kurzweilige Minuten.
Das bei der Uraufführung offenbar zu üppige, auch Tanz erfordernde Stück lebt durch den Überfluss einer wortreichen Sprache der Emotionen, des Begehrens und der variantenreichen Verzögerung von Glück und Lust. Unter der szenenaffinen wie fachkundigen Leitung Michael Hofstetters spielte die Akademie für Alte Musik Berlin in ihrer ersten Kooperation mit den Telemann-Festtagen mit chamäleonischem Klangreichtum. So gelang in der optimalen Akustik des zur Premiere fast ausverkauften Opernhauses Magdeburg ein Festspiel der besonderen Art.
Ein bisschen Gegenwart auf der Bühne
Nur hie und da wurde ein bisschen aktualisiert und für die Gegenwart paraphrasiert. Sonst orientieren sich Sänger und Stab fast frivol, aber auch ernsthaft an der Ursprungszeit. Sinnreich die Szene: Im hölzernen Gerüst Lisa Däßlers balgen sich zum Vorspiel Kinder von heute. Dann fackelt das Modell ab und das Geschehen rollt ab wie eine Kinderphantasie. Die Idee des höfischen Theaterfestes wird in einem hölzernen Gerüst mit Wolkenflugwerk und einem Bootswrack als Symbol gefährlicher und waghalsiger Lebensfahrten zum lebhaft bewegten Bild, allenfalls etwas verspielter und mit etwas mehr Witz als an den feudalen Höfen.
Valerie Hirschmann unterstützt das in ihren Retro-Kostümen. Dietrich Henschel, laut Textbuch der Deus ex machina Turpino, genießt seine Auftritte als Flattergeist zwischen Mephisto und Amor mit Regiebuch. Er stupst an und doch zwingen ihm in den entscheidenden Momenten des Spiels andere Figuren ihre eigenen Ideen auf.
Mehr Liebe als Pflicht in Magdeburg
Das muss man über das wortreiche Schwadronieren in den hohen Emotionsregionen wissen: Postel nahm seinen Plot aus der spätrömischen Geschichte anno 422. Gensericus hat erst Karthago, dann Rom platt gemacht und mit den besiegten „Römer:innen“ einen großen Plan. Seine Männer sollen diese heiraten, auf dass diese Bündnisse blühende Dynastien und Landschaften begünstigen. Anders als in der adeligen Realität geht es in „Sieg der Schönheit“ nicht um politische Zweckheiraten, sondern um Liebesehen. Anlässe zum rekordverdächtigen Süßholzraspeln, Sprücheklopfen und Parolenschwingen gibt es zuhauf.
Edelste Krinolinenkleider haben schmutzige Rocksäume. Zum Liebeskampf schwingen Frau und Mann das Holzschwert und der erdige Boden wirkt wie ein Sandkasten für Erwachsene. Erfreuend undogmatisch wird akzentuiert, dass die verweigernde Haltung der Römer:innen ein profeministisches Gedankenfundament hat. Verständlich: Kaiserin Eudoxia (Lydia Teuscher hat die sprichwörtliche Träne in der kapriziösen Stimme) will nicht in die nächste toxische Ehe.
Am schönsten singt Sunhae Im als Placidia, weil sie Gesang und Diktion immer an der Schwelle von Ironie und Emphase einsetzt. Anna Willerding ist eine Pulcheria, die trotz Brille den Liebeswald vor lauter Hindernisbäumen nicht sieht. Sarah Alexandra Hudarew ergänzt die römische Frauenriege als Melite exzellent.
Schöne Männerrollen in Telemann-Opern
Schon weil es in Telemann-Opern weitaus mehr attraktive Männerpartien für jede Stimm- und Alterslage gibt als beim Kastraten-Fetischisten Händel sollten kleine und große Opernhäuser mehr Telemann wagen. Hier reicht das Spektrum vom recht viril klingenden Countertenor Terry Vey als Honoricus über den bei seinem sozialen Umfeld verständlich zaudernden Quoten-Römer Olybrius von Marko Pantelić. Der klar fokussierende Baritenore Dominik Köninger ist stimmlich mehr ein Galan Gensericus denn barbarischer Berserker. Da zeigt Schuhmacher, dass sie durchaus utopischen Scharfblick hat und Ausnahmen binärer Dualismen in Geschichte und Gegenwart zu würdigen weiß.
Ein bisschen Asterix-Dramaturgie: Johannes Stermann ist als Trasimundus ein Grandseigneur mit goldenem Herzen und etwas unglücklichen Versen, Ludwig Obst als Helmige der Bedachte mit so manchem klugen Spruch. Ein wunderbarer Abend also mit Herz, dieser Barockoper bestens angemessener großer Klappe und einer Utopie von Emanzipation.