Roaring Twenties in einer Musikalischen Komödie
Fast 100 Jahre später ergreift Ludger Vollmer für das nun am Theater Heidelberg uraufgeführte Auftragswerk die Gelegenheit beim Schopf. Zwar erlangt keine der Figuren des Stücks Persönlichkeitsprofil. Macht aber nichts. Massenhysterie fegt ohnehin über den Einzelcharakter hinweg. Freilich mit der von Schwitters im Libretto etwa in den Versen über „Onkel Heini“ angepeilten Schlagerqualität: Vollmer bedient sie vollauf. Unter seinen Händen gerät nicht allein „Onkel Heini“ zum Ohrwurm.
Die Partitur hat dem, was in den 1920er-Jahren aus dem Radio tönte, manche Hitrezeptur abgelauscht. Hinzu gesellen sich Foxtrott, Jazz, Soul und Rap. Für religiöse Endzeiterwartungen treibt zu allem Überfluss Gospel sein Wesen. Werke, die etwas auf sich halten, zitieren den Tristan-Akkord, so auch hier. Doch ist der Umgang mit Linckes „Berliner Luft“ weitaus bemerkenswerter. Unter Vollmers Händen gewinnt das Marschlied ähnliches Eigenleben wie Josef Strauß‘ „Dynamiden Walzer“ in Richard Strauss‘ Rosenkavalier. Immer wieder hält die Musik für ausgiebige, entweder pointensatte oder nicht minder erbarmungslos die Lachmuskeln attackierende sinnfreie Sprechpassagen inne. Astronomie-Diener Rommel darf dann mit wirrem Wortschwall brillieren.
Bühne voller Übertreibung
Für alles dies spendiert Regisseur Christian Brey dem Affen reichlich Zucker. Das sinnfreie Geschehen spult sich wie am Schnürchen ab. Keine Frage, ein glänzender Zeitvertreib. Auf die mit dem dritten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts verbundenen Klischees setzt Brey immer noch eins drauf. Ordnungspolizeichef, Schlagersängerin und all die anderen sind noch durchgeknallter als sich in Kenntnis von „Cabaret“ oder „Babylon Berlin“ vermuten lässt. Ausstatterin Anette Hachmann beschwört mit einem die Spielfläche einfassenden flittrigen Fransenvorhang das, was früher einmal Tingeltangel hieß. Ihre Kostüme karikieren 1920er-Jahre-Chic.
Vorbild aus Heidelberg
Kollektive wie Solistinnen und Solisten votieren entschieden für die Novität. Dabei wird der Chor des Hauses unter Virginie Déjos in den Folgeaufführungen sicher noch an rhythmischer Prägnanz und Durchschlagskraft zulegen. Im Graben findet Dietger Holm mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg immer stilistisch sattelfest und geradezu musikantisch durch den Glitzerkram der Partitur. Für den Astronomen Virmula bietet James Homann seinen raumgreifenden und bestens fokussierten Bariton auf. Johanna Greulich nimmt als Tänzerin Taa wie auch Gospelqueen für sich ein. Den Oberordnungskommissar gibt Franko Klisović mit geschmeidigem Countertenor.
Gewinnend auch die Riege der Spielenden: André Kuntze bringt die Hysterie des ohnehin schrägen Astronomie-Dieners Rommel sprachlich und ebenso in den grotesken Verrenkungen virtuos über die Rampe. Elisabeth Auer und Leon Maria Spiegelberg kommentieren als Marsmenschen in ihrem Erdlingen unverständlichen, aber lautmalerisch entzückenden Idiom das Geschehen auf dem Blauen Planeten. Iván Pérez setzt mit seiner schrillen Choreografie für eine Handvoll Tänzerinnen und Tänzer dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.
Das Publikum bedenkt Singende und Spielende immer wieder mit Szenenapplaus. Übrigens hat das Werk in Heidelberg auch etwas verloren, weil das Vorbild für den Astronomen Virmula ein örtlicher Lehrstuhlinhaber für die Sternenkunde war. Mit seiner Kometenprognose sorgte er für Panik nicht nur am Neckar.