Foto: Ensemble des Staatstheater Kassel in "Die Hamletmaschine" von Wolfgang Rihm. © Sylwester Pawliczek
Text:Detlef Brandenburg, am 10. März 2024
Mit „Die Hamletmaschine“ hat das Staatstheater Kassel ein gedankliches und organisatorisches Mammutwerk vorgenommen. Die Inszenierung nutzt daher alle Sparten und kann überzeugen: mit anspielungsreichen Bildern und musikalischer Bestleistung.
Heiner Müllers berühmter Text „Die Hamletmaschine“ ist ja nicht besonders lang. Aber er ist so dicht aufgeladen mit Referenzen auf Shakespeares „Hamlet“, Assoziationen zur Situation des Autors in der Spätphase der DDR und geschichtsphilosophischen Gedankenblitzen, dass einem schier schwindelig werden kann. Dass ausgerechnet dieses Werk in der erratischen Komposition von Wolfgang Rihm einen musikalischen Widerpart auf Augenhöhe finden konnte, ist ein Glücksfall – aber auch eine Herausforderung für alle Interpreten.
Denn man kann Rihm wahrlich nicht nachsagen, dass er ihnen die Sache leichter machte als den Müller-Exegeten. Das ist vermutlich auch der Grund, warum die meisten Häuser einen großen Bogen um dieses überwältigende Stück Musiktheater machen. Nach der Uraufführung 1987 in Mannheim folgten zwar noch in derselben Saison Produktionen in Freiburg und 1990 Hamburg. Aber dann dauerte es bis zu Sebastian Baumgartens bilderreicher Inszenierung 2016 in Zürich. Nun hat das Staatstheater Kassel sich an den Brocken gewagt – und gewonnen!
Heiner Müllers Text spielt mit zahlreichen historischen Verweisen. Foto: Sylwester Pawliczek
Gedanken-Schichten im Theater
Verkürzt gesagt, reflektiert Müller in Shakespeares handlungsgehemmtem Dänenprinzen seine eigene intellektuelle Situation angesichts des politischen und ideologischen Bankrotts des real existierenden Sozialismus Ost ebenso wie des real existierenden Kapitalismus West: Keine Utopie, nirgends! Es drohte das Ende der Geschichte in einer Agonie, die jedem politischen und künstlerischen Handeln, so es denn auf Zukunft zielte, den Boden entzog.
Rihm antwortete auf Müllers mit viel Selbstironie durchschossenen Verzweiflungstext mit einer hochexpressiven Musik, also sehr direkt. Dabei arbeitet er aber auch mit musikalischen Allusionen, klanglichen Gesten und ironischen Szenenanweisungen, die er einem Riesenapparat aus großem Orchester und Chor, mehrfach besetzten Hauptpartien und einem Heer von sprechenden, schreienden und agierenden Komparsen überantwortete.
Die Inszenierung in Kassel bezieht alle Sparten ein. Foto: Sylwester Pawliczek
Oper, Tanz und Schauspiel verbunden
Dieser hybride Apparat brachte das Staatstheater Kassel unter seinem Intendanten Florian Lutz auf eine an sich nahliegende, aber so konsequent selten realisierte Idee: Dieses Stück schreit nach einer spartenübergreifenden Produktion! Also ging nicht nur die Regisseurin Florentine Klepper ans Werk, sondern mit ihr gemeinsam der durch die Street- und Clubszene geprägte Choreograf Valentin Alfery.
In den verschiedenen Rollen (darunter drei Hamlets, einschlägiges Shakespeare-Personal, aber auch Gestalten wie ein „Engel mit dem Gesicht im Nacken“, „Tote Frauen“, „Drei Schreiende“) sind nicht nur Sänger und Statisterie zu erleben, sondern auch die grandios tanzende Compagnie von Tanz_Kassel oder Zazie Cayla und Jakob Benkhofer vom Schauspielensemble als Hamlet I und II.
Die Produktion nutzt Sebastian Hannaks Raumbühne „Antipolis“, platziert das Gros der Zuschauer allerdings im Parkett. Die Handlung spielt im Bühnenhaus, das Sarah Katharina Karl eingerichtet hat mit einem Steg durch den Zuschauerraum, die Batterien des Schlagwerks dröhnen von den Rängen. So erlebt man auch hier totales Raumtheater in phantasmagorischen Kostümen von Miriam Grimm, überlagert von Live- und anderen Videos von Robert Läßig.
Ein kaum zu fassender Bilderreigen wird in Kassel gezeigt. Foto: Sylwester Pawliczek
Opernabend voller Bilder
Klepper und Alfery laden Musik und Text mit einer Fülle von Bildern, Aktionen und Sinnbildern auf, die hier nicht annähernd wiedergegeben werden kann, nur so viel: Es macht wahnsinnig Spaß, all dem Wahnsinn zu folgen. Auch deshalb, weil er sinnlich unverkrampft herüberkommt und nicht belehrend. Man „muss“ definitiv nicht alles verstehen!
Klug ist der Schluss: Als Ophelia sich in blutigen Rachephantasien am saturierten Volk ergeht, steigen Astronauten herab und spannen gelbschwarze Sperrbänder auf, die jede Aktion unterbinden. Das System „Hamletmaschine“ erstarrt in Aporie, das Publikum muss selber sehen, was es mit all den Assoziationen anfängt, die ihm dieser grandiose, wunderbar spielfreudig präsentierte Abend ins Hirn gesetzt hat.
Mut wird in Kassel belohnt
Musikalisch war die Produktion überschattet von einem Konflikt zwischen der Intendanz und dem Orchester mit Generalmusikdirektor Francesco Angelico. Das hat dem Abend musikalisch aber nicht geschadet. Angelico dirigiert die schwierige Partitur bemerkenswert klangsinnlich, umsichtig und vielschichtig. Das Orchester zeigt Klangkultur und Niveau.
Annette Schönmüller singt die Ophelia mit energetischer Dramatik und hat die Partie von den Mezzo-Tiefen bis zum hohen C sicher im Griff, auch Peter Felix Bauer als Hamlet III singt mit großer Präsenz, manchmal vielleicht etwas forciert und gepresst. Als Ophelia-Double schwingt sich Marie-Dominique Ryckmanns bis in gleißende Königin-der-Nacht-Höhen empor. Und auch der von Marco Zeiser Celesti einstudierte Opernchor ist mit Verve bei der Sache.
Vielleicht dämmert dem Staatsorchester Kassel ja nach der vom Publikum gefeierten Premiere, dass der Kurs der Experimente mit ungewöhnlichen Werken und unkonventionellen Raumkonzeptionen keine Gefahr für das Haus ist, sondern eine lohnende Herausforderung. Wirklich gefährlich wäre dagegen ein Weiter-so nach altbewährten Mustern, die immer weniger Menschen erreichen. Denn dann blickt die Oper eines nicht allzu fernen Tages womöglich so ratlos ins leere Parkett wie die Hamletmaschinisten in die leere Zukunft. Und am Ende kommen die Astronauten und sperren alles ab …