Szene aus „Le Nozze di Figaro”

Im Sperrbezirk der Kunst

Wolfgang Amadeus Mozart: Le Nozze di Figaro

Theater:Komische Oper Berlin, Premiere:27.04.2024Regie:Kirill SerebrennikovMusikalische Leitung:James Gaffigan

Zum zweiten mal inszeniert Kirill Serebrennikov an der Komischen Oper Berlin eine Mozart-Oper und bleibt dabei seiner Linie treu. „Le Nozze di Figaro” zeigt eine Zwei-Klassen-Gesellschaft die von Gewalt, Kunst und Kritik geprägt ist.

Man könnte den Da-Ponte-Zyklus, den Kirill Serebrennikov gerade an der Komischen Oper in Berlin inszeniert (2025 soll noch „Don Giovanni“ folgen), in gewisser Hinsicht für ein ästhetisches PS zur vergangenen Ära von Barrie Kosky halten. In Anspruch und origineller Form so ähnlich, aber doch ganz anders. Detailfreudig in der Personenführung, mit doppelbödigem Deutungsehrgeiz und allemal opulent – so ist nach Serebrennikovs „Così fan tutte“ auch „Le nozze di Figaro“ geraten.

Klassengesellschaft auf der Bühne

Die Bühne (die Ausstattung verantwortete der Regisseur) ist wieder so ein Zweietagenbau. Diesmal ist es ein Raum gewordenes soziales Gefälle. Oben der geräumige, geradezu aseptische Ausstellungsraum einer noblen Kunstgalerie (oder eines Privatanwesens der Oberklasse). Dort ist die attraktive Karolina Gumos als taffe Hosenanzugträgerin Marcellina zuständig. Das Personal – das die Kunstobjekte (die nach einer Melange aus Henry Moore und Jeff Koons, auf jeden Fall aber teuer aussehen) platziert, die Wände streicht, auch mal ein altes Bild restauriert und sich privat lustig über all das macht – hat die Spinde für seine Arbeitskleidung im beengten Kellergeschoss. Dort steht ein halbes Dutzend Waschmaschinen und es wird dauernd gebügelt. Hier findet die Matratze für Figaro und Susanna kaum Platz. Selbst der Internetempfang ist unten mies. Die Menschen halten ihre Handys immer mal nach oben, um ins Netz zu kommen. Die digitalen Neusprechblasen kann man dann als Matratzen-Projektion mitlesen.

Die vorrevolutionäre Standesgesellschaft, wie sie vor allem Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, aber auch Lorenzo Da Ponte und W.A. Mozart auf dem Kieker hatten, ist also in das Ambiente eines nüchternen Spätkapitalismus übersetzt, in dem Macht aus Eigentum oder Einkommen resultiert. Dass die Reichen und Mächtigen daraus auch ein Recht auf erotische Übergriffe ableiten, gehört zu den männlichen Verhaltensmustern. Von denen ist auch der Sympathieträger Figaro nicht ganz frei. Das belegen nicht nur seine drei Arien, die eine Art brachialen Machismo transportieren (wie es der Dirigent des Abends, James Gaffigen, nennt). Es zeigt sich auch in der Ruppigkeit, mit der Figaro im Schlusstableau seiner Susanna das von der Gräfin geborgte Kleid regelrecht vom Leib reißt und damit seine Vorstellung von der Ordnung der Dinge klar macht.

Blick auf eine Bühne mit zwei Etagen: Oben Kunstwerke und Leuchtschrift, unten Waschmaschinen und Fließen.

Erneut wird die Klassengesellschaft in Berlin auch im Bühnenbild sichtbar. Foto: Monika Rittershaus

 

Kunst und Kapitalismuskritik in Berlin

Es ist nicht sicher, ob nach dieser Liebesheirat schon Horvaths „Figaro lässt sich scheiden“ aus der Ferne grüßt. Oder, ob die im Keller dauerpräsente alte Frau (Susanne Bredehöft) als personifizierte Vergänglichkeit der Jugend, nicht auch die Vorwegnahme einer alten, einsamen Susanna sein könnte.

Zum hinzugefügten Personal gehört ein junger Mann (Nikita Elenev), der seine Präsenz im Hintergrund mit einem starken Solo-Auftritt krönt. Dass auch er sich einmal bis auf die Unterhose auszieht, gehört noch zum optischen Sound des Abends. Aber dann bindet er sich eine Fleischerschürze um, schnappt sich ein Messer, stürmt nach oben mitten in die Vernissage (zur Hochzeitsmusik) und meuchelt das im silbern funkelnden Pailettenlook angerückte Publikum. Als Performance. Eins der Kunstobjekte ist schließlich der Neonröhren-Schriftzug „Capitalism kills love“ an der Wand. Klingt nach allfälliger Kapitalismuskritik, stimmt aber nur zum Teil. In vorkapitalistischen Zeiten waren Liebesheiraten zwar ein Traum der Dichter, jedoch in der Wirklichkeit nur der Ausnahme- und Glücksfall. Aber sei’s drum.

Mutige Eingriffe in Mozarts Meisterwerk

Der Text, der Anspruch und Grenzen von moderner Kunst und ihrer Suche nach Wahrheit reflektiert, den Don Bartolo (Tijl Faveyts) erst vorliest und der dann als Videolaufband, selbst zum Kunstobjekt geworden, noch einmal mitzulesen ist, den hätte man gerne im Programmheft wiedergefunden. Wie übrigens auch einen Hinweis auf die eingefügte innehaltende Streicher-Sequenz am Ende. Wobei dieses Stück aus einem Haydn-Streichquartett von Mozart dem Grafen endlich mal ein paar Sekunden des Innehaltens verschafft, bevor er seine Frau um Verzeihung bittet. Sonst kommt ihm das ja immer ziemlich unglaubwürdig plötzlich über die Lippen. Auch, dass der zweite Akt mit dem „Soave sia il vento“ anfängt, das sich Gräfin, Susanna und Graf aus „Così fan tutte“ ausborgen, wirkt atmosphärisch schlüssig. Das gehört zu den Momenten, in denen sich der Abend die Kunstbehauptung der Bühne auf surreale Weise zu eigen macht und davon profitiert. Es gibt aber auch alle meist gestrichenen Arien von Marzellina, Bartolo und Basilio.

Der ambitionierteste Eingriff ist die Aufspaltung von Cherubino in eine singende Cherubina und einen stummen Cherubino. In dieser taubstummen Rolle drückt Georgy Kudrenko nur (aber was heisst hier nur!) mit seinem Körper, Tanz, Bewegung und Gebärdensprache die brodelnde Leidenschaft aus, die Susan Zarrabi als Cherubina in Gesang übersetzt. Männliche Körperlichkeit pur gibt’s beim Hechtsprung aus dem Fenster sogar splitternackt, oder im letzten Akt als versilberte Skulptur. Die Männer zeigen hier überhaupt gerne mal ihre famos trainierten Körper. Das virulente Begehren, das in der Musik zu hören ist, wird in dieser Inszenierung in Berlin höchst glaubwürdig sichtbar. Die ausgeprägte toxische Seite des Grafen ist in einem kongenialen Schergen (mit einem grandiosen Rollenspiel des Perversen: Nikita Kukushkin) personifiziert.

Eine Frau in einem violetten Satinkleid drückt mit beiden Händen gegen eine Wand, auf der anderen Seite drückt ein Mann im Anzug mit dem Rücken dagegen.

Der „Figaro“ in Berlin zeigt eine maskuline und toxische Gesellschaft. Foto: Monika Rittershaus

 

Entfesseltes Theater

Dieses entfesselte Theater funktioniert als Ganzes vor allem, weil Tommaso Barea ein in jeder Hinsicht dunkel attraktiver Figaro ist und Hubert Zapiór sein smart arroganter Gegenspieler als Graf Almaviva. Dass Susanna die Frau ist, die hier eigentlich den größten Durchblick hat, wird von der beherzt frischen Penny Sofroniadou durchweg vorkam und darstellerisch beglaubigt. Nadja Mchantaf ist als Contessa längst desillusioniert, was die Dauerhaftigkeit von Liebesglück betrifft. Sie klingt auch melancholisch sanft. Johannes Dunz als Basilio und Peter Lobert als Antonio komplettieren das insgesamt überzeugende Protagonistenensemble.

Am Pult des Orchesters der Komischen Oper sorgt James Gaffigan durchweg für die zupackende Dramatik, die diese szenische Deutung herausfordert, setzt ihr aber auch musikalisches Innehalten entgegen und sichert den Sängern Raum zur Entfaltung.