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Musikdramatik auf dem Zeitstrahl

Niccolò Jommelli: Berenike, Königin von Armenien

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:15.02.2015Autor(in) der Vorlage:Apostolo ZenoRegie:Jossi Wieler, Sergio MorabitoMusikalische Leitung:Gabriele Ferro

Stuttgart ist anders. Da hat also „Berenike, Königin von Armenien“ Premiere, eine Oper, die schon deshalb kein Mensch kennen kann, weil sie seit fast 250 Jahren nicht mehr gespielt wurde. Der Komponist, Niccolò Jommelli, wurde im gleichen Jahr geboren wie Christoph Willibald Gluck und war einst weltberühmt und von Fürsten umworben. Heute aber kann er dem Kollegen in der operngeschichtlichen Prominenz nicht das Wasser reichen. Auf der Bühne stehen keine Stars, sondern versierte Könner ihres Fachs, bis auf zwei sind sie Ensemblemitglieder des Hauses. Und auch der Dirigent ist kein glamouröser Stabschwinger, sondern ein leicht vertüftelter Fachmann, der allein durch seine eigenwillige Einrichtung von Jommellis Streichersatz viel dazu beträgt, dass man an diesem Abend eine solche Freude hat an diesem merkwürdigen Stück aus dem Niemandsland zwischen alter Opera seria und neuer Empfindsamkeit.

Und die Inszenierung des zwar höchst prominenten, in der Arbeitsweise aber vollkommen uneitel seriösen Duos Jossi Wieler und Sergio Morabito, beide als Intendant und Chefdramaturg zugleich die Leiter des Hauses, ist geprägt von einer blitzend gescheiten und listig komödiantischen dramaturgischen Intelligenz. Alle Verführung zum Effekt, die dieses Werk bietet (bei der Uraufführung waren Hundertschaften von Komparsen im Einsatz, dazu auch ein „eingekleideter Löw“ und jede Menge hölzerner Säbel, Degen und Spieße zur Erschlagung desselben), lässt sie souverän links liegen. Ein Schmankerl für die feinsinnigen Spezialisten also – denkt man. Aber wie reagiert das Stuttgarter Publikum? Es bejubelt die Sänger mit heißem Herzen und verhandelt die Inszenierung in einem phonstarken Buh-Bravo-Wettkampf, als hätte da gerade jemand die „Aida“ im Schandpfuhl des Regietheaters versenkt. Nicht überall ist die Beziehung zwischen dem Musiktheater und seinem Publikum noch so lebendig wie hier.

Diese Oper ist hier also am rechten Ort – auch in historischer Hinsicht. Sie wurde nämlich am Hof des Herzogs Carl Eugen von Württemberg uraufgeführt, quasi ein Vorgänger von Winfried Kretschmann, der damals allerdings nicht in Stuttgart, sondern in Ludwigsburg residierte. Dieser Herrscher war wahrlich eine bizarre Persönlichkeit, prunksüchtig, egozentrisch, musikverrückt. Er ließ ein verschwenderisch ausgestattetes Opernhaus erbauen und lockte Jommelli mit opulentem Salär und ebensolchen Arbeitsbedingungen. Dort erwachte diese „Berenike“ unter dem Titel „Il Vologeso“ 1766 mit viel Pomp zum Bühnenleben – und wurde nur ein einziges Mal aufgeführt. Angesichts der geisterhaften „Ombra“-Szene, in der die Heldin Berenice sich vom Schatten ihres geliebten Bräutigams Vologeso umschwebt glaubt, war Jommellis Dienstherr angeblich so bewegt, dass er sich keine weitere Aufführung mehr zumuten mochte. Eine fast parodistische Anekdote – die aber viel über das Werk verrät. In der Tat: Jommellis Musik bewegt das Herz. Und sie lässt genau dadurch die Ausdrucksfloskeln der barocken Affekte weit hinter sich. Sie individualisiert die Figuren, dramatisiert ihre inneren Konflikte so sehr, dass dieses Seelenleben geradezu in Konflikt gerät mit dem Profil, das die Figuren im Libretto nach einem Text von Apostolo Zeno haben.

Das ist auch kein Wunder. Als Jommelli sich das Sujet vornahm, war es bereits 66 Jahre alt und hatte an die 100 Vertonungen hinter sich. Die Handlung gibt vor dem Hintergrund des römischen Partherkriegs, den der Unter-Kaiser Lucuis Verus gegen den parthischen Großkönig Vologaeses führte, die typische Liebesgeschichte mit finaler Apotheose des guten Herrschers wieder: Lucio Vero ist eigentlich Marc Aurels Tochter Lucilla versprochen, umwirbt aber nach seinem Sieg über Vologeso dessen Verlobte Berenice. Nach allerhand melodramatischen Komplikationen ist er geläutert, reicht Lucilla die Hand zum Bund fürs kaiserliche Leben und schenkt Vologeso und Berenice die Freiheit und die Macht über das Partherreich. Mit Jommellis Musik aber geraten diese Figuren in den Sog eines Zeitstrahls, der sie ergreift und hinausträgt aus den traditionellen Figurenprofilen hin zu einer geradezu modernen inneren Empfindsamkeit und Zerrissenheit. Vom Sog dieses Zeitstrahls handelt Sergio Morabitos und Jossi Wielers Inszenierung in Bühnenbild und Kostümen von Anna Viebrock. Sie verlängern ihn sogar noch vom römischen Reich über den italienischen Manierismus und das Barock der Entstehungszeit bis ins krisengeschüttelte Armenien unserer Tage.

Anna Viebrocks Bühnenbild findet dafür eine geniale Chiffre: Vorn, am Fuß einer bühnenbreiten Treppe und dort quasi als musikalischer Botschafter der Jommelli-Zeit den ganzen Abend über sichtbar, sitzt das Orchester. Rechts und links fluchtet halbhohes Gewände und führt in eine marmorne römische Antike mit einem dominanten Postament, hinten schließen als Hängesofitten ausgeführte, dann und wann auch mal launig pendelnde Säulen diesen römischen Teil des Bühnenbildes ab. Der hölzerne Waschbottich rechts am Portal aber fällt nicht ins altrömische Kapitel. Der stammt aus Tintorettos Gemälde „Die Fußwaschung“ von 1549; und nachdem man sich zuerst mal gefragt hat, was das denn hier soll, fällt es einem im zweiten Akt, wenn weitere Figuren des Gemäldes in Form gemalter Versatzstücke hereingetragen werden, wie Schuppen von den Augen: Auch diese Figuren verlassen ihre durch das biblische Sujet vorgegebene ikonographische Rolle. Die Fußwaschung vollzieht sich ganz rechts, im Zentrum döst ein Hund, die Jünger am Tisch dahinter scheinen gelangweilt, desinteressiert – die scheinen alle mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und nicht etwa mit dem, was sie laut dem überkommen Sujet eigentlich interessieren sollte. Hinter den offenen Säulen-Arkaden aber gewahrt man eine moderne südländische Stadt: heruntergekommen, möglicherweise von Kämpfen beschädigt. Dies könnte das moderne Armenien sein.

Von hier hinten strömen zu Beginn die Akteure in ihren zum modernen Stadtprospekt passenden Billig-Sportklamotten auf die Bühne. Sie scheinen vor einer Bedrohung zu fliehen, schauen furchtsam zurück, bis sie Kostüm-Versatzstücke finden und diese überstreifen. Damit schlüpfen sie auch in ihre Rollen finden so in der „römischen“ Ebene des Bühnenbildes und im Kunstraum der Oper gleichsam Schutz vor der bedrohlichen Gegenwart. Sie flüchten sich ins ästhetische Spiel. Aber mit diesem Spiel ist es auch wieder nicht geheuer, weil es längst durchlöchert ist vom Zeitstrahl der Geschichte. „Wenn mein Liebster lebt, fühle ich die Schmerzen nicht und achte nicht der Qual…“ singt Berenice, nachdem Lucio Vero ihren Bräutigam Vologeso gefangengesetzt hat. Aber Jommellis Musik straft sie Lügen, das bebt und zittert und barmt und klagt – und genau so, völlig zerrissen, ja zugrunde gerichtet, führt Wieler in dieser Arie auch die Figur der Berenice. Und nicht nur die. Immer wieder und überall macht er spürbar, dass diese Helden, so wie Jommelli sie vertont, von ganz anderen Kräften getrieben, gepeinigt oder auch mal beseelt sind, als es das traditionelle Sujet ihnen vorgibt – genau wie Tintorettos Figuren auch.

Das ist ein Moment von feiner Ironie, die bisweilen eine funkelnde Komik ermöglicht. In Lucillas Auftrittsarie beispielsweise kommt die Kaisertochter, von Helene Schneiderman wirklich brillant gespielt, wie ein betuliches Muttchen herüber, das aus purer Naivität an das Richtige und folglich auch daran glaubt, dass Lucio Vero sie liebt. Und in der Tat ist diese Arie konventioneller gesetzt als die der Berenice – und der Regisseur verständigt sich durch seine Personenführung darüber augenzwinkernd mit dem Publikum. Doch auch diese Figur reift mit ihrer Musik und findet durch Leid zur Größe. Ähnliches passiert mit Lucio Vero: Der ist nicht der heldenhafte Tatmensch der barocken Opera seria, der ist ein naiver Junge, dem eine überwältigende Liebe den Kopf so sehr verdreht, dass er kaum noch den Schemel schleppen kann. Und Berenice und Vologeso sind Traumatisierte eines Krieges, von dem sie sich vermutlich nie mehr erholen werden. Das lieto fine, der traditionelle glückliche Schluss, funktioniert hier ganz einfach deshalb nicht mehr, weil diese Figuren bis dahin zu viel durchgemacht haben (des Fingerzeigs mit der giftgrünen Flasche, aus der sich Berenice am Ende bedient, hätte es da gar nicht bedurft). Oder, im Sinne der Inszenierung formuliert: Er scheitert, weil diese Menschen einfach zu modern geworden sind, um die Gattungskonvention noch zu erfüllen. Deshalb streifen sie sich die antiken Klamotten geradezu entsetzt wieder vom Leib, als versehrten sie ihnen die Haut. Die Kunst konnte ihnen die Geborgenheit nicht geben – sie werden sich der Gegenwart wieder stellen müssen.

Das ist brillant gedacht und brillant gemacht, geschliffen bis ins kleinste Detail, scharfsinnig im großen Wurf. Aber auch der Dirigent Gabriele Ferro hatte hier eine richtig gute Idee. Da die historische Überlieferung der Partitur ohnehin in vielen Aspekten zweifelhaft ist, nahm Ferro sich die Freiheit, Jommellis Streichersatz wie ein Concerto grosso zu arrangieren: Als zwischen größeren und kleineren Streichergruppen alternierendes Konzertieren. Der Effekt ist wunderbar: Eine vitale, reich schattierte und fein verästelte Klangwelt tut sich auf, die in den verschiedenen Besetzungsstärken zudem auch noch die Stimmen wunderbar unterstützt. Unter ihnen ragt die Sopranistin Ana Durlovski heraus. So genau fokussiert, so lupenrein leuchtend, ausdrucksvoll  und filigran habe ich sie lange nicht mehr singen hören. Bei ihr scheint sich Emotion ganz in Kunst aufzulösen, ohne darum auch nur das Geringste an existentieller Dringlichkeit einzubüßen. Bemerkenswert auch, wie Sophie Marilley im Laufe der Aufführung in der etwas unbequem liegenden Kastratenpartie des Vologeso wächst. In der ersten Arie wirkt ihr Mezzo noch etwas verschwommen im Fokus; aber dann findet sie zu dunkel abgetönter Leuchtkraft und expressiver Intensität. Und wie Helene Schneiderman mit der ganzen selbstironischen Grandezza einer Grande Dame die Lucilla porträtiert, das ist schon auch ein Coup für sich.

Sebastian Kohlhepp muss als Lucio Vero einige ziemlich unbequeme und auch sehr konventionell gesetzte Endloskoloraturen singen – die klingen etwas bleiern. Aber sonst zeichnete er mit leichtfüßig geführtem, hell und viril timbriertem Tenor den Lucio Vero als von der Liebe überforderten Collegeboy. Igor Durlovski singt den Aniceto gleich mit zwei Stimmen: Als opportunistischer Berater schmeichelt er dem Lucio Vero mit dunklem Altus, als intriganter Nebenbuhler wirbt er in mannhafter Basslage um die Gunst Lucillas – ein schlimmer Pragmatiker der eigenen Sache. Und Catriona Smith gibt dem Flavio ein quecksilbrig funkelndes Timbre und den verdrückten Habitus eines subalternen Überzeugungstäters des alten Regimes.

Diese Figuren wird man so bald nicht vergessen. Und diese grandiose Premiere wird man lange in Erinnerung behalten.