Foto: Zu sehen sind Maskaron (MacKenzie Gallinger), Gottes Sohn (Leo Yeun-Ku Chu), Gottes Mutter (Patrizia Häusermann) und Julia Bachmann (Mariechen). © Manja Herrmann
Text:Sören Ingwersen, am 9. Juni 2019
Fahle Streicherflächen und klavieristisches Kolorit schwelen im Orchestergraben. Von hinten tönt der gemischte Chor aus dem Rang. Auch bildlich tobt der Kampf zwischen Himmel und Hölle: auf einer riesigen Reproduktion des Gemäldes „Sturz der gefallenen Engel“ des niederländischen Renaissancemalers Pieter Bruegel des Älteren. Das Stadttheater Bremerhaven wartet zum Ende der Spielzeit mit einer echten Entdeckung auf: Das Marienspiel „Mariechen von Nimwegen“ des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinů, eingeleitet durch den Prolog „Die klugen und törichten Jungfrauen“, ist eine musikalische Wundertüte, an der man sich kaum satthören kann.
In staubigen Strahlen zwängt sich das himmlische Licht in Okarina Peters und Timo Dentlers Bühnenbild durch die Bretter, die die Welt bedeuten. Langsam schwebt die Spielfläche herab, gehalten bloß von dünnen Schnüren. Sie wurde unfreiwillig zum Sinnbild dieser Aufführung, die bis zuletzt am seidenen Faden hing: Durch den krankheitsbedingten Ausfall von Sopranistin Victoria Kunze musste die Hauptpartie kurzfristig neu besetzt werden – in einer Oper, die länger als ein halbes Jahrhundert nicht mehr auf deutschen Spielplänen stand! Lediglich zwei Probentage standen der jungen Sopranistin Julia Bachmann zur Verfügung, die als Mariechen ihre von innerem Feuer erfüllte Stimme und ihre breite spielerische Ausdruckspallette souverän zu nutzen wusste: als naives Mädchen, das den Fängen des Teufels zu entfliehen versucht, seinem Drängen aber schließlich doch nachgibt. Als verlockendes Vollweib, das sich ganz der Lust und dem Laster hingibt. Und als reuige Sünderin, die zuletzt die Gnade des Himmels erfährt.
Durch die Handlung führt Schauspieler Marc Vinzing als erzählender und kommentierender Prinzipal. Als diabolischer Verführer mit Augenklappe spielt Bariton Vikrant Subramanian seinen teuflischen Charme beherzt aus, während er Mariechen mit Schmuck und Erdbeeren bezirzt und die junge Frau später – als die Spielfläche sich wieder gehoben und die dunkle Unterwelt freigelegt hat – dazu bringt, unter seiner Federführung in einer wilden Feier mit den Chorsängern alle Hemmungen fallen zu lassen.
Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Ektoras Tartanis lässt dabei die Instrumentenfarben einzeln wie im Verbund verheißungsvoll aufleuchten, legt die jazzartigen und volkstümlichen Anklänge der Partitur frei, hat hörbar Spaß an den rhythmischen Finessen und jähen Bläserausbrüchen, die teilweise den Eindruck vermitteln, man sitze in einem Stummfilmtheater, in dem Bild und Ton minutiös ineinandergreifen. Unterstrichen wird dieses stimmige Zusammenspiel durch die gestenreich auskomponierte, bildhaft schlüssige Inszenierung von Intendant Ulrich Mokrusch, in der auch der Humor nicht zu kurz kommt: Ihre moralische Läuterung erfährt Mariechen als Zuschauerin einer Theateraufführung, die Mokrusch durch ihre dilettierenden Darsteller ins Komödiantische wendet. Als knallrote Knallcharge mit Hexenbesen wettert Tenor MacKenzie Gallinger in der Rolle des Maskaron gegen Gott. Als gütig lächelnde Gottesmutter flüchtet Mezzosopranistin Patrizia Häusermann sich mit herrlicher Unbeholfenheit in die stereotype Geste der ausgebreiteten Arme. Und Bass Leo Yeun-Ku Chu fokussiert seine Gesprächspartner als kreuztragender Gottessohn so ungeschickt, dass die Umstehenden immer wieder ihre Köpfe einziehen müssen.
Gegenwartsanspielungen gibt es in Mokruschs Inszenierung nicht – und das ist gut so, denn die 1934 nach dem Matthäusevangelium und einem mittelalterlichen Mysterienspiel komponierte Oper schöpft ihre Kraft aus dem sinnbildlichen Widerstreit von blinder, aufwühlender Leidenschaft und innerem, moralischem Frieden. Großartig, wie die Sänger und Musiker dieses allzu menschliche Lebensthema an diesem Abend künstlerisch ausgekostet haben!