Foto: "Zdenek Adamec" am Deutschen Theater © Arno Declair
Text:Barbara Behrendt, am 22. Oktober 2020
Im Dunkeln noch klingt es, als spiele sich ein Orchester fürs große Konzert ein. Doch wenn der Vorhang aufgeht, steht da ein Guckkasten, auf allen Wänden Ikonenbildnisse mit Heiligenschein und Maria-Gewand, davor Holzbänke. Dazu Gullys im Boden und eine Jukebox, aus der zwischendurch ein einzelner Glockenschlag dröhnt. Ein Raum zwischen drinnen und draußen, Kirche und Kiosk, Diesseits und Jenseits. Und das Orchester? Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler (alle auch Musiker) stehen und sitzen verteilt, jeder und jede einen Instrumentenkoffer an sich gedrückt – wie eine Band, vergessen am Bahnhof.
Das Bild der verhinderten Musiker öffnet den Assoziationsraum – sowohl zu Peter Handkes musikalisch-poetischem Text als auch zu Jossi Wielers Regie. Nach seiner Intendanz an der Stuttgarter Staatsoper kehrt er am Deutschen Theater nun zur Schauspiel-Regie zurück; und selbst, wenn er keine Opern inszeniert, lauscht Wieler dem Rhythmus und Ton eines Stücks genau, liest Dramen als Sprachpartitur.
Dieses Drama heißt Zdeněk Adamec – doch wer soll das sein? Wer erinnert sich, dass es der Name eines 18jährigen war, der sich 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz mit fünf Litern Benzin übergossen und in Brand gesetzt hat? Am selben Ort, an dem sich 1969 Jan Palach und Jan Zajíc aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verbrannt hatten. Warum tat es Zdenek? Was war so unaushaltbar an dieser Welt?
Dem versucht, Handke nachzuspüren. Nicht „auf den Grund zu gehen“, wie es andere Autoren machen würden: mit knallharter Recherche in Humpolec, Adamecs Heimatstadt. Mit Überlegungen zu politischen und sozialen Verhältnissen. Nein, Handke lässt Stimmen mäandern, Gerüchten nachgehen, ein Leben zurechtdenken. Es hätte so gewesen sein können.
Vieles im Text und an diesem Abend ist von leiser Komik getragen. Etwa, wenn Linn Reusse ganz genau weiß, wie sich der Zdeněk gefühlt hat – aber nicht mal seinen Namen richtig aussprechen kann. Oder wenn sie „mehr Hauptsätze, weniger Nebensätze“ fordert, wie man das nur von Sprachbanausen kennt – und Regine Zimmermann mit einem Referat antwortet, wann die Zeit sei für kurze Sätze und wann für lange. Von Herzen gern habe der Zdeněk gelebt, wissen sie. Eine Indianerfeder habe er mal aus dem Museum gestohlen. Und ein Waldfleckchen mit Blaubeeren, wo ihn die Mutter einen ganzen Tag lang allein gelassen habe, sei sein geheimes Zuhause geworden.
Im typisch sprachberauschten, wortziselierenden Handke-Ton fliegen die Stimmen wie Vögelchen, die an Beeren picken, vom einen Gedanken zum nächsten. Eine Tat wie die von Zdeněk ist aus der Zeit gefallen, ein Protest gegen die gegenwärtige Welt – und für Handke gerade deshalb betrachtenswert. Wofür lohnt es sich zu sterben? Was trieb Zdeněk an: Hochmut, Weltverdruss, Verzweiflung? Wie entsteht Geschichte – wie entstehen Geschichten? Was bedeutet Wahrheit in einer Welt voller „Scheinaktivitäten“, wie Handke sie nennt?
Das Stück ist kein großes Epos wie Handkes „Immer noch Sturm“ damals über Heimat, Erinnerung, Familie. Es bleibt ein kleines sprachverspieltes Nachspüren, was den Menschen ausmacht, was die Welt (nicht mehr) ist – assoziativ und mehrstimmig. Wieler gelingt es, aus dem Stimmengewirr klar konturierte Figuren herauszuschälen. Bernd Moss gibt den nervösen, komischen Neurotiker, Felix Goeser ist wie der junge Handke zurechtgemacht und reißt weit die Klappe auf, Linn Reusse gibt die kultiviert Mondäne, Regine Zimmermann weiß alles besser und verliert (zum Schein) die Perücke – ist ja alles nur ein Spiel. Oder nicht?
Am Ende zerfällt sie, ohne großes Pathos, in einzelne Schollen, diese seltsame Welt. Ein hintergründiger Sprach-Abend, der Handke nicht huldigt, sondern ihn augenzwinkernd beim Wort nimmt.