Szene aus "Médée"

Giftige Rache einer Ausgegrenzten

Marc-Antoine Charpentier: Médée

Theater:Staatsoper Unter den Linden, Premiere:19.11.2023Regie:Peter SellarsMusikalische Leitung:Simon Rattle

Regisseur Peter Sellars inszeniert Charpentiers „Médée“ bei den Barocktagen der Berliner Staatsoper als Drama einer ausgegrenzten Geflüchteten. Am Pult arbeitet Simon Rattle die musikalischen Feinheiten der französischen Oper wunderbar heraus.

Wenn die Geschichte grausam oder dramatisch wird, wird Marc-Antoine Charpentiers Musik in der Oper „Médée“ oft besonders feinsinnig und delikat. Da grollt zwar irgendwo in der Berliner Staatsoper eine große Trommel im Untergrund, wenn Medea die Dämonen und wie in einem innigen Gebet den Gott der Hölle beschwört. Aber kein Orchester rauscht auf. Die Stimme der Medea-Sängerin Magdalena Kožená bleibt gefasst, zart, was einen umso mehr erschütternden Kontrast ergibt: Diese Frau aus Kolchis hat schon so viele Lügen von ihrem Geliebten Jason ertragen müssen, so viel Hass erst von den eigenen Leuten, weil sie Jason im Kampf ums Goldene Vlies gegen ihr Volk unterstützte, dann von den Menschen im Land ihres Asyls, wo Jason gleich wieder zum ersehnten Helden wurde, aber sie, die „Barbarin“ aus der falschen Gegend, zum ausgegrenzten Flüchtling. Darum scheint sie ganz ruhig, als sie ihre Rache plant und wieder ihre alte Zauberkraft entdeckt. Von der Musik geht so eine magische Spannung aus.

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Und Simon Rattle am Pult des besonders warm klingenden Freiburger Barockorchesters – die Stimmung wurde noch etwas weiter abgesenkt als bei Alter Musik üblich – wirkt ganz verliebt in diese weiche, subtile Musik Charpentiers, geht im Extremfall lieber noch weiter ins Leise und Filigrane. Das klingt unheimlich erfüllt und sensibel. Dieser Sakral-Komponist, der hinter Lully nie so recht zum Zuge kam im Opernfach, ist wirklich eine Entdeckung fürs Musiktheater. Auch weil all die ariosen Melodien, die Streitgespräche und Selbsterörterungen so elegant ineinanderfließen, quasi durchkomponiert sind. Die nicht nur von zwei Cembali, sondern auch anderen Instrumenten gestalteten Continuos lassen die Rezitative in die oft schmal, aber mit ausdrucksstarken Instrumenten wie Blockflöten und Gitarren begleiteten Arien übergehen.

Auf einer Bühne in grünen und roten Licht tanzen eine Frau und zwei Kinder.

Magdalena Kožená überzeugt in ihrer Darstellung der Medea an der Staatsoper in Berlin. Foto: Ruth Walz

 

Musik voller dramatischem Tiefgang

So etwa in Jasons ziemlich eitler Eingangs-Arie, wo er seinen Zwiespalt der Gefühle zwischen Medea, in die er mal verliebt war, und der Prinzessin des neuen Gastlands, Créuse, viel zu schön aussingt für einen ziemlich opportunistisch sein Heil suchenden Pseudo-Helden, siegreich eigentlich nur dank Medea. Aber Charpentier lässt ihm volles Recht zukommen, zeigt im Dialog mit den Instrumenten seine Sensibilität. „Ich wäre glücklicher, würde ich weniger geliebt“ ist die Arie eines Narzissten. Von Reinoud Van Mechelen wird sie mit wunderbar weichem, in mildem Glanz schimmerndem Tenor interpretiert. Bevor er zu vollem Orchester auch mit heftigerem Ton seine Verzweiflung zwischen Begierde und Treue ausdrückt. Merkwürdigerweise hat Jason auch mit seinem Rivalen Oronte, vor der Schlacht in der Abendsonne sitzend, eine wunderschöne Aussprache über die Liebe. Gyula Orendt bringt dafür einen markanten Bariton ein.

Mit Medea sind die Duette gespannter. Wenn sie ihn zur Rede stellt, wird Jason sogar laut, ruft mehr als er singt. Da zeigt sich Charpentier als guter Psychologe, denn wer sich im Unrecht weiß, dreht umso mehr auf. Es ist quasi eine rezitativische Szene wie in Frickas Dialog mit Wotan bei Wagner. Und die folgende Selbsterklärungsarie Medeas entspräche Wotans Selbstaussprache. Wieder taucht die Melodie betont langsam aus dem Orchester auf, reißt sie mit in ein schmerzliches Agitato, für das Magdalena Koženás Mezzo doch etwas dramatischer aufgehen könnte. Grundsätzlich aber ist sie eine grandiose Medea, die fast die ganze Zeit auf der Bühne stehend ein sehr menschliches, nie megärenhaftes Porträt der verratenen Frau liefert, stimmlich immer auf schöner Linie und nuancenreich singend. Charpentier ging es immer um Ausdruck. Das übliche barocke Koloraturgeklingel, rein technische Virtuosität lagen ihm nicht.

Auf einer Bühne mit zwei künstlerisch verfremdeten Bäumen umarmen sich zwei Menschen.

Die Bühne von Frank Gehry wirkt eher unkonkret. Foto: Ruth Walz

 

Schwache Regie an der Staatsoper Berlin

Die Inszenierung von Peter Sellars gibt Kontrast. Flüchten sich die Bühneninstallationen des Star-Architekten Frank Gehry ins Ästhetische, aussagelos wie so oft die abstrakten Interventionen von bildenden Künstlern im Theater sind. Zwei durchscheinende, geäderte Bäume werden von zwei auf- und absteigenden Drahtgeflecht-Wolken begleitet. Nur bei Medeas Zauber glühen diese Adern stimmungsvoll auf. Dagegen lässt Sellars mal eine Kanone reinfahren, mal stellt er einfache Gitter um Medea oder andere gefangene Frauen. Schon hat man die Flüchtlingszäune im Sinn. Das ist gut, nur findet keine wirkliche Personenregie statt. Die Tänzerinnen wehen rein und raus, statt einen Chor der Geflüchteten und Leidensgenossinnen Medeas zu bilden.

Am Ende ist alles vergiftet: Créuse stirbt an Medeas vergiftetem Kleid. Carolyn Sampson singt die Rivalin mit einem charmanten, freundlich aus sich strahlenden Sopran. Das Duett mit Jason wird unter Rattle immer leiser, wie ein Leben, das erlischt. Medea lässt auch ihre Kinder Gift trinken. Finale Rache an Jason, dem sie die Rechtfertigung aller Kriegführenden zuruft: Was da brennt, ist die Welt, die du geschaffen hast. Und das geht einem durch Mark und Bein, weil auch dies ohne jede Triumphgeste einfach nur traurig-zart verdämmert.

Charpentiers „Médée“ ist eine lohnende Wiederentdeckung, die man freilich besser inszenieren könnte als an der Staatsoper Berlin.