Foto: Brenda Rae und
Nadezhda Karyazina in "Semele" bei dem Opernfestspielen München © Monika Rittershaus
Text:Joachim Lange, am 16. Juli 2023
Mit seiner Inszenierung von Händels Opern-Oratorium „Semele“ schafft es der Regisseur Claus Guth bei den Opernfestspielen in München zu überzeugen. Denn für den Mythos des ewig fremdgehenden Gott Jupiter findet er faszinierende Bilder.
So wie in München, stellt man Festspiel-Euphorie im Saal her: Mit Claus Guth und Georg Friedrich Händels „Semele“, also den so passenden sowie souveränen Regieprofi zum richtigen Stück. In einem Haus wie dem Prinzregententheater, das den Festspielgedanken schon in seiner (einzigartigen) architektonischen Adaption des Bayreuther Festspielhauses (samt angenehmerer Sitze) verkörpert.
Mit Musikern des Bayerischen Staatsorchesters im Graben, die zwar keine expliziten Protagonisten der historischen Musizierpraxis sind, aber die die Münchner Händelkonjunktur unter Sir Peter Jonas nicht wieder vergessen, sondern weiter gepflegt haben. Gianluca Capuano lässt sie sowohl herzerfrischend zupackend von der Leine, wie er es andererseits schafft, die von Händel so meisterhaften Verlangsamungen und stillen Passagen herauszuarbeiten. Dazu kommt ein wirklich handverlesenes Protagonistenensemble, das durchweg mit sagenhaftem emotionalen Drive die Verbindung zwischen der gurgelbasierten barocken Unterhaltungsshow zu den psychologierenden Subtexterforschungen heutigen Musiktheaters mit ganz eigener Opulenz und darstellerischer Intensität ausstattet.
Was Händels Stück in München so beliebt macht
Dass „Semele“ eigentlich „nur“ ein Oratorium und gar keine richtige Oper ist, hat die Nachwelt schon lange stillschweigend korrigiert. Auf Widerspruch beim Pragmatiker Händel wäre das wohl kaum gestoßen. Der hatte sich mit seinem Genrewechsel von der Oper hin zum Oratorium vor allem den Nachfrageveränderungen des Marktes in London angepasst, ohne dabei insgeheim seine Neigung zur Theaterbühne aufzugeben. Schon die Tatsache, dass allein die letzte Münchner „Semele“ (zwar im Cuvilliertheater, aber als Auftrag des Gärtnerplatztheaters) erst zehn Jahre zurückliegt, belegt die Bühnengängigkeit der Geschichte.
Das Libretto von William Congrave liefert dafür natürlich eine Steilvorlage. Immerhin bietet es doch eine Folge der im Barock so beliebten Endlos-Soap über den notorischen Fremdgeher Jupiter und seine ebenso notorisch eifersüchtige Gattin Juno. Um sich Semele als Rivalin vom Hals zu schaffen, bringt Juno die aktuelle Flamme Jupiters durch eine raffiniert eingefädelte Intrige dazu, von Jupiter den Status der Unsterblichkeit zu fordern und zu verlangen, dass er sich ihr nicht in menschlicher Tarnung sondern in seiner eigentlichen göttlichen Gestalt zeigt. Was kein Mensch überlebt.
Aber er hat einen Eid geschworen und kommt nicht mehr aus der Nummer raus. Er zeigt sich also mit großem musikalischen Getöse in seiner Göttlichkeit und verwandelt Semele dabei zwangsläufig in eine Flamme. Kommt davon, könnte man sagen. Aber neben dieser Moral von der Geschicht‘ entsteigt zum Trost für die überbegehrlichen Menschenkinder aus Semeles Asche zum Vergnügen der Menschheit kein geringerer als der Weingott Bacchus.
Ein Gott in der Welt der Frauen
So jedenfalls die Geschichte hinter der Geschichte, die Claus Guth herausgelesen hat und die Michael Levine (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme) und ebenso Roland Horvath (alias rocafilm mit den Videos) und nicht zuletzt Ramses Sigl mit seinen perfekten Choreografien für den Chor zu einer selten zu erlebenden Melange aus hochästhetisch, opulent, dramatisch und psychologisierend verarbeitet haben. Man kann das getrost auch ein Gesamtkunstwerk nennen!
Schon das erste Bild mit dem idealisierten Brautpaar hinter einem weißen Grieselnebel fasziniert. Dann die bunte Hochzeitsgesellschaft. Bei der wuseln Jessica Niles und Philippe Sly, die hauptsächlich als Iris und Cadmus beziehungsweise Somnus beschäftigt sind und ihr Päckchen zu tragen haben (Iris ihre Chefin Juno, die Oberschlafmütze vor allem ein Ruhekissen) im stummen Nebenjob als Wedding Planer zwischen chic aufgestylten Hochzeitsgästen im nobel weißen Festsaal umher.
In diesem dann natürlich auch fotografierten und vergrößert projizierten Hochglanzbild irritiert eine schwarze Feder, die bei Semele etwas auslöst – oder Ausdruck dessen ist, was ohnehin in ihr brodelt. Die Feder stammt aus dem, was man ein Auftrittskostüm Jupiters bei seinen Streifzügen durch die Menschenwelt (in dem Falle tatsächlich Frauenwelt) nennen könnte. In den Träumen von Frauen, die wie Semele Objekt seiner Begierde sind, taucht er nämlich als Adler auf. Mit gewaltigem Theaterdonner, durchbrennender Saalbeleuchtung (auf der Bühne) und in vielfacher Vogelgestalt gehört das Federkleid dann auch zum effektvollen Drumherum dieses Gottes. Semele ist dieser Liebe zu Jupiter verfallen. Also dem so ganz Anderen, hinter der Oberfläche ihrer strahlend weißen Welt. Hinzukommt, dass Semeles Schwester Ino in deren Bräutigam Athamas verschossen ist. Das bringt sie auch im Skandalformat zum Ausdruck. Am Ende bekommt sie ihn eh.
Überzeugendes Ensemble auf der Opernbühne
Nadezhda Krayazina betört in der Rolle der Schwester nicht nur mit der dunklen Leuchtkraft ihrer Stimme, sie spielt das auch genauso überzeugend. Ebenso wie die Marionette, zu der sie Göttin Juno macht, um ihr die verhängnisvollen Forderungen an Jupiter durch ein vertrautes Gesicht einzuflüstern.
Da befinden sich alle in der dunklen Welt des Begehrens, in die Semele gelangt ist, nach dem sie mit der Kraft der Verzweiflung ein Loch in die weiße Wand des schönen Hochzeitsscheins mit den blumengespickten Großbuchstaben, die sich zu LOVE fügen, gehauen hat, und durchgestiegen ist. Die Welt der Götter als Bild für das Ungezügelte, auch Anmaßende? Oder lediglich die dunkle Seite in einem selbst? Folgerichtig bleibt Semele physisch diesmal vorhanden, wenn auch wie im Wachkoma erstarrt. Sie wird nur noch als Erinnerung wahrgenommen. Die Szene setzt am Ende alles wieder auf Anfang. Nur mit ausgewechselter Braut.
Diese Reise aus der Gegenwart ins Unterbewusste und wieder zurück bestreiten die Protagonisten vor allem mit grandiosen vokalen und darstellerisch präzise ausgefeilten Rollenporträts. Brenda Rae treibt als Semele ihre endlos wirkenden Hochseil-Koloraturen bis in die Kategorie Wahnsinns-Arien. Der Counter Jakub Józef Orliński ist nicht nur ein phänomenal kraftvoll leuchtender Athamas. Dank Claus Guth hat der Pole endlich mal die Chance, den Saal auch mit seinen Breakdance-Künsten zum Ausflippen zu bringen. Jupiter nutzt unter anderem diese Nummer, um Semele zu unterhalten. Obwohl sich der fabelhaft baritonal geerdete und sich tenoral aufschwingende Michael Spyers auch selbst alle Mühe gibt, bleibt Semele frustriert. Und so hat die weder den dramatischen Furor, noch die exzessiv eingesetzte Attraktivität sparende Emily D’Angelo als Juno leichtes Intrigenspiel, das sie aber nicht leicht nimmt.
Wie gesagt: So gehen Festspiele!