Foto: "Die Goldberg-Variationen" am Münchner Volkstheater © Arno Declair
Text:Anne Fritsch, am 25. Juli 2020
Christian Stückl ist ein „analoger Mensch“, wie er selbst sagt. Auf Theater im Internet hatte der Intendant des Münchner Volkstheaters keine Lust, auf erzwungene Untätigkeit auch nicht. Drum ging das Volkstheater vorzeitig in die Sommerpause und startete nun, am letzten Schultag vor den bayerischen Ferien, in die neue Spielzeit. Fünf coronataugliche Inszenierungen wurden in den vergangenen Wochen geprobt, den Anfang des Sommertheaters machten jetzt „Die Goldberg-Variationen“ von George Tabori, open air im Innenhof.
„Irgendwie“ sei er auf diesen Text gekommen, sagte Stückl in der Pressekonferenz und schmunzelte. Denn irgendwie ist es einfach sein Stück in diesem Sommer, in dem er eigentlich zum vierten Mal die Passionsspiele in Oberammergau inszeniert hätte, ein paar Wochen vor der Premiere aber von Corona ausgebremst wurde. Taboris Stück ist ein Blick hinter die Kulissen, in den Probenalltag: Ein Regisseur will das Alte Testament auf die Bühne bringen. Eine Riesen-Show soll es werden. Doch überall gibt es Probleme: die Technik will nicht, das Ensemble sträubt sich. Und der Regieassistent? Der denkt zu allem Überfluss mit. Man sieht, wie Theater entsteht – oder eben nicht. Und es ist erfrischend, dass dieses „nicht“ hier ausnahmsweise nicht an einem Virus namens Corona liegt, sondern ganz schlicht an menschlichem Versagen. Tabori handelt in diesem Stück all die Themen ab, die Stückl seit jeher umtreiben: Christentum, Judentum, Antisemitismus und Theater. Es ist sein Stück, keine Frage.
All das in einer bitterbösen Komödie umzusetzen, ist vielleicht auch ein Stück persönlicher Katharsis nach diesen Monaten der Rückschläge. Stückl jedenfalls hat den Text von allerlei Nebenfiguren befreit und eine konzentrierte Fassung für vier Schauspieler und eine Schauspielerin erstellt. Sein Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier hat sie alle in schrille Kostüme gesteckt und für die biblischen Szenen einen Hauch Oberammergau nach München gebracht. Beiden hat es sichtlich Spaß gemacht, ihr Thema, die Passion, mal ganz anders anzugehen.
Denn der Regisseur im Text, Mr. Jay, ist nichts, was Stückl ist. Und alles, was dieser nicht ist: eitel, selbstgefällig, antisemitisch und chauvinistisch. Pascal Fligg spielt ihn mit großer Lust am Chauvitum, lässt es so richtig krachen. In schwarzem Adidas-Anzug, mit dunkler Brille und Pferdeschwanz sieht er ein wenig nach Zuhälter aus – und verhält sich genau so. Mit gelebten Macht- und Rollenklischees hat er ebensowenig Probleme wie mit Machismen und Antisemitismen. Wer die Minderheit ist, bestimmt immer noch er. Und wenn’s nicht anders geht, gönnt er sich einen legendären Auftritt als Moses und verkündet pathetisch, wo’s langgeht.
Luise Deborah Daberkow spielt Terese Tormentina, die Diva, die Angebetete des Regisseurs, die alles in Frage stellt und den Großmeister in den Wahnsinn treibt. Nach 40 Jahren Wanderung durch die Wüste um ein goldenes Kalb tanzen und die Sau rauslassen? Schwachsinn, findet sie. „Da bin ich doch müde und dehydriert.“ Nackt sein im Paradies will sie auf keinen Fall, da hilft auch kein Bibelzitat, das Mr. Jay als Beleg heranzieht. Und wenn’s hart auf hart kommt (und das ist hier quasi der Normalzustand), dann hält sie auch mal einen Monolog über die „toxische Maskulinität“, die sie umgibt.
Cengiz Görür, Stückls Judas-Darsteller aus Oberammergau, ist der Nachwuchs-Spieler, der alle Rollen von der Schlange bis zu Isaak als Windelkind ohne Murren übernimmt und die abstrusesten Kostüme mit Grandezza trägt. Höchst motiviert und akrobatisch geht er an die Sache heran, wird aber immer wieder ausgebremst. Nur in Sachen Kreuzigung macht ihm so schnell keiner was vor, da hat er einige technische Tricks „in Oberammergau gesehen“. Timocin Zieglers Raamah ist vielleicht der abgeklärteste in Mr. Jays Ensemble. Seine Frau ist durchgebrannt mit einem Requisiteur der Münchner Kammerspiele, nun ist ihm alles wurscht, vor allem das Theater. Spielt er halt Ritter und Pferd in einem, galoppelt mit Lanze in der Hand schnaubend auf der Stelle.
Und dann ist da noch die eigentliche Hauptfigur, Goldberg. Mr. Jays Regieassistent oder vielmehr Leibeigener. Mauricio Hölzemann sieht aus, als hätte er vor lauter Stress seit Wochen nichts gegessen. Wenn er mal wieder die Proben übernimmt, erschrickt er vor seiner eigenen Courage. In einer der stärksten Szenen des Abends muss er, der selbst Jude ist, den antisemitischen Höhepunkt des Treibens inszenieren. Am Ende will Jay ihn am Kreuz sehen: „Wer, wenn nicht du? Wann, wenn nicht jetzt?“ Der Jude muss dran glauben, die alte Geschichte.
Die Musiker Tom Wörndl und Severin Rauch unterlegen alles mit coolen Beats und Sounds, die schon mal zu der einen oder anderen Rap-Einlage inspirieren. Stückl inszeniert gut gelaunt, entspannt und lässig, meistert die Krise mit Humor. Zwar dauert es ein wenig, bis das Spektakel richtig Fahrt aufnimmt, dann aber läuft alles wie von selbst. Diese „Goldberg-Variationen“ sind keine Notlösung, kein Jammern um verpasste Möglichkeiten. Sie sind ein gut gelauntes Stück Theater in einer Zeit, die genau das braucht: Kunst als Gegenpol zur Krise.