Bernhard Glose und Marco Menegoni

Genau hinsehen

Anagoor: Polyptychon der Niedertracht

Theater:Theater an der Ruhr, Premiere:15.02.2025 (UA)Regie:Simone Derai

Am Mülheimer Theater an der Ruhr zeigt die italienische Gruppe Anagoor in Kooperation mit dem Theater wieder einmal außergewöhnliches Theater. „Polyptychon der Niedertracht“ ist eine Auseinandersetzung mit historischen Gewaltdarstellungen, die uns sehr nahe kommt.

Der erste Teil ist eine Bildbeschreibung in siebzehn Teilen. Der Lütticher Kupferstecher Theodore de Bry hat darin, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein, die Massaker der spanischen Eindringlinge an der indigenen Bevölkerung Südamerikas dargestellt. Sie zeigen von Hunden gehetzte, auf Feuern geröstete oder ihrer Gliedmaßen beraubte Menschen; Assoziationen an christliche Märtyrer liegen in dieser Bildersprache des 16. Jahrhunderts durchaus auf der Hand. Bernhard Glose liest zu den auf einer Leinwand eingeblendeten Bildern analysierende Texte, elektronisch verfremdete Renaissance-Musik (Musik und Sound Design: Mauro Martinuz) deutet die Dramatik der fernen Geschehnisse an.

Unbekannter Roman, berühmtes Gemälde

Der Text beruht auf dem Roman „Tríptico de la infamia“ des kolumbianischen Schriftstellers Pablo Montoya. Der ist nicht zu verwechseln mit dem im Internet weit präsenteren Rennfahrer, dieses Hauptwerk des südamerikanischen Autors ist noch nicht einmal ins Deutsche übersetzt. In dem Roman treffen auch de Bry und sein ebenfalls protestantischer Kollege François Dubois aufeinander. Dessen berühmtestes Werk bildet das Pariser Massaker in der Bartholomäusnacht 1572 ab.

Im zweiten Teil der zweistündigen Inszenierung zeigt die Bühne auf einem großen Bild das berühmte Gemälde von Dubois – allerdings ganz ohne die mordenden und ermordeten Menschen. Wir sehen vielmehr eine tote, leblose Stadt. Am Rand sprechen, in je einem Bildschirm zu sehen, zwei alte Männer in ernster Kluft des 16. Jahrhunderts miteinander über die Abbildungsmöglichkeiten von Gewalt. Rupert J. Seidl berichtet als Dubois von seinen Hemmungen als persönlich Betroffener, das Bild überhaupt zu malen. Roberto Ciulli stellt als de Bry heraus, dass die globale Gewalt der europäischen Invasoren bis heute wirkt.

Tanz in der öden Stadt

Das digital festgehaltene Spiel der beiden Männer ist nicht nur ergreifend, sondern öffnet durch seine komplexe, grandios komponierte Rahmung auch weitere Gedankenfelder. Dubois‘ Aufnahmen sind immer wieder von kurzen Bildausschnitten seines Mordspektakelbildes durchsetzt. Und während er seine Bemühungen um das Bild schildert, deutet Aurora Rò mit einem Stab fast tänzerisch die Schauplätze des Grauens auf der leeren Stadtansicht an. Am Ende bildet das gesamte Ensemble um das leere Bild herum einen Tanz der Opfer oder Täter vor und hinter der Leinwand: Neben den bereits genannten der wie Glose in Hemd und Krawatte distinguiert auftretende und den Dialog der weißen alten Männer ins Italienische übersetzende und so eine weitere Ton und Sprechebene schaffende Marco Menegoni, die singende und Montaignes Bericht von einer zirzensischen Völkerschau im Paris der Katharina Medici zitierende Gayane Moysisyan, der durchgehend als Pfau behandelte Piero Ramella und die Katharina Medici-Figur Monica Tonietto.

Bei aller Komplexität der Ebenen zeichnet sich die Inszenierung durch eine große Ruhe aus. Regisseur Simone Derai verbindet – auch in Personalunion für Bühne, Licht und (teils) Video verantwortlich – den Romantext und die zwei Bildquellen organisch miteinander. In der Konzentration auf ferne historische Bilder und Figuren entsteht nicht nur ein Bild der gewalttätigen Menschheit, sondern auch eine Reflexion über den Versuch künstlerischer Aufarbeitung.

Ritual des Erinnerns

Letztlich regen die Bilder, Töne und Inhalte dieses „Polyptychon der Niedertracht“ vielmehr zum Verständnis unserer Gegenwart an. Gewaltbilder in den sozialen Medien sowie durch Gewalt und brutale Landnahme hervorgerufene Migrationsströme haben tiefere Ursachen und sind nicht allein aus dem aktuellen Moment heraus zu verstehen. All das deuten Derai und das Ensemble an, lassen das Publikum jedoch selbst aus diesem formal klaren, fast ritualisierten Erinnern an die Geschichte seine Schlüsse ziehen.

Seit zehn Jahren sind Derai und seine Gruppe regelmäßige Gäste und Kollaborateure des Theaters an der Ruhr. (Hier unsere Kritiken von „Sokrates“ und „Germania“.) Wieder einmal gelingt es diesem artifiziellen, Kunstsparten verbindenden Theater die Gegenwart genau und sorgfältig zu spiegeln. Das leere, umspielte Bild der Bartholmäusnachtmorde, ja das Theater von Anagoor insgesamt lehren uns, genau und sorgfältig hinzuschauen.