Dieser „Freischütz“ hat grandiose Sänger*innen zu bieten: hier Pavel Černoch (Max), Anna Prohaska (Ännchen) und Golda Schultz (Agathe).

Mord aus Liebe

Carl Maria von Weber: Der Freischütz

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:13.02.2021Regie:Dmitri TcherniakovMusikalische Leitung:Antonello Manacorda

Keine Jäger, kein Erbförsterei, kein Wald, keine Wolfsschlucht und mutmaßlich kein Happy Ending, aber am Ende herrscht trotzdem großes Glück beim Publikum vor dem Bildschirm angesichts einer musikalisch wie szenisch fulminant gelungenen Produktion. Auf der Bühne und in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov spielt der ganze, ohne Publikum aus der Bayerischen Staatsoper pausenlos live gestreamte „Freischütz“ im Foyer einer Konzernzentrale mit Bistro-Tischen. Dahinter eine geschwungene Wand mit vertikalen Lamellen, durch die man auf Hochhäuser sieht. Sie können aber auch den Raum nach Draußen abriegeln. Mattes Oberlicht an der Decke beleuchtet das Ganze diffus wie im Museum.

Schon zur Ouvertüre werden wir mittels Inserts wie im Stummfilm schriftlich über die Personenkonstellation aufgeklärt: Agathe hatte lange keinen Kontakt zum Vater, will nun aber Max, ehrgeiziger Angestellter im Unternehmen des künftigen Schwiegervaters, heiraten; Ännchen wiederum, beste Freundin, emanzipierte Frau und Stütze Agathes in dieser Zeit der Entfremdung vom Vater, versteht nicht, warum Agathe plötzlich zu „Kinder, Küche, Kirche“ zurückkehren will.

Dann, gleich zu Beginn, und anders als bei Webers Librettist Friedrich Kind, spricht Max (Pavel Černoch) in hellgrüner Strickjacke, darunter eine blaue Krawatte (Kostüme: Elena Zaytseva), einen folgenschweren Satz: „Ich kann nicht auf Lebendiges schießen“. Währenddessen schauen wir mit ihm durchs Zielfernrohr und sehen Passanten auf der Straße, die er im Visier hat. Er zögert weiter und ein anderer übernimmt für ihn den vermeintlich tödlichen Schuss. Bei uns wie bei Max ist der Schock groß, während die Belegschaft Wein und Bier trinkend jubelt: „Viktoria! Viktoria! Der Meister soll leben!“

Später erfahren wir, dass alles fingiert war, aber da ist schon die Wolfsschlucht vorbei, hier eine veritable Folterszene wie in Guantanamo, in der aus Kaspar (ein schöner, eleganter Mann mit grauen Schläfen und Prachtbariton: Kyle Ketelsen) das verdrängte Kriegstrauma aus dem Innersten durch die Oberfläche bricht: In Plastik eingeschnürt, schleift er einen leblosen Körper herein. Später sehen wir: Es ist Max! Offensichtlich hört Kaspar im Wahn Stimmen und so spricht aus ihm wortwörtlich der Geist Samiels. Statt Bleikugeln zu gießen, lässt Kaspar sie erst in einer Schachtel hin- und herrollen und schießt dann ganze sechs Mal auf Max, der irgendwann nicht mehr weiß, wo oben und unten, was Spiel, was Ernst ist und am Ende halbwahnsinnig davonstolpert. Einmal mehr wird klar: Für Max steht alles auf dem Spiel. Er könnte zum Mörder an einem Menschen werden und hätte dann alles verloren, nicht nur seine geliebte Agathe. Aber ohne den Schuss hat er – gar nichts!

Im nun folgenden dritten Akt läuft der Countdown weiter: Immer wieder wird Zeit eingeblendet und am Ende sind fast 24 Stunden vergangen. Nun endlich muss Max schießen, zielt wieder auf die Menge draußen, dann auf die Menschen im Büro und trifft – vermeintlich Agathe. Doch die steht, wie bekannt, wieder auf. Stattdessen erschießt Max Kaspar und plötzlich tritt aus der Gruppe der allgegenwärtigen Kellner mit schwarzer FFP2-Maske ein Riese heraus – der Eremit. Max zieht ihm die Maske ab und darf aus dem Munde von Tareq Nazmi mit dessen mächtigem Bassbariton das erlösende „Wer legt auf ihn so strengen Bann? Ein Fehltritt, ist er solcher Büßung wer?“ hören. Erst schüttelt ihn ein Weinkrampf, dann folgt Erleichterung und zur herrlichen Melodie des Finales findet all- und wechselseitige Umarmung statt, freilich fast in Slow Motion und in nachtblau irisierenden Licht, das beunruhigend flackernd durch den Raum zittert. Zu den letzten Takten liegt Agathe erneut am Boden und Max hat sein Gewehr auf sie gerichtet.  War das glückliche Ende also vielleicht nur sein Wunschtraum?

Bis in die kleinsten Rollen hinein (Kilian: Milan Siljanov, Ottokar: Boris Prýgl, Kuno: Bálint Szabó, Eremit: Tareq Nazmi) ist diese absolut sehens- und hörenswerte Produktion großartig besetzt. Herausragend freilich Golda Schultz als ungemein warmherzige, grundgütige, sanfte Agathe mit ebensolchem, herrlich reich timbrierendem Sopran und ihr Gegenspieler Kyle Ketelsen als Kaspar, der seine Traumatisierung unter verführerisch erotischer Hülle verbirgt. Unvergessen, wie Golda Schultz in ihrer zweiten Arie die Hand eines jungen, schüchternen, aber umso empfindsamer zuhörenden und mitempfindenden Kellners ergreift, während sie vom Auge Gottes singt, das sie mit Liebe wahrnimmt, „und wär‘ dies auch mein letzter Morgen“. Auch Anna Prohaska spielt und singt das emanzipierte Ännchen mit aufmüpfig steiler wasserstoffblonder Frisur im hellblauen Hosenanzug mit locker über die Schulter gelegter Jacke ganz so, wie sie aussieht, und ohne einen Funken Soubretten-Tändeln. Pavel Černoch, immer perfekt als gebrochener Held, verkörpert mit endlich einmal nicht angespanntem, sondern durchaus ausgeruhtem, leicht jungheldisch gefärbtem Tenor den Max ebenfalls überzeugend als Getriebenen, der sich in einem wüsten Gespinst aus Liebesbedürftigkeit und Karrieresucht verfangen hat.

Bleibt Antonello Manacorda, der am Pult des abstandsbedingt schlanken Staatsorchesters Webers ebenso luzide wie (früh-)romantische Partitur fein durch- und ausleuchtet. Subtiler und doch fein theatralischer kann das nicht klingen. Und auch der ebenfalls klein besetzte Chor der Bayerischen Staatsoper spielt und singt überragend.

 

Ein kostenloser Stream der Aufführung ist ab Montag, 15. Februar 2021 (19 Uhr), für 30 Tage auf Staatsoper.TV verfügbar.