Foto: "Baby Doll" mit Stencia Yambogaza © Thomas Aurin
Text:Matthias Nöther, am 5. September 2020
Das Stück „Baby Doll. Eine Flucht mit Beethovens 7. Sinfonie“ hat die Pariser Regisseurin, Filmemacherin und Autorin Marie-Ève Signeyrole ursprünglich für die französische Stadt Metz inszeniert. Dort konnte es zu Beginn des Lockdowns in Frankreich nicht mehr herauskommen, und so ersetzt es nun einen regulären Start der Spielzeit an der Deutschen Oper Berlin. Das Stück erzählt drastisch die Flucht einer Frau aus Côte d’Ivoire, der westafrikanischen Elfenbeinküste. Ganz am Ende kommt die heute 27-jährige Bamousso Leyla Kamara selbst auf die Bühne, die diese Flucht im März 2014 antrat. Kamara weint, als sie den Tod des kleinen Issa in einem Schlauchboot beschreibt. Er wurde von einer panischen Menge zerquetscht, die Leiche ins Wasser geworfen, sie sah ihn untergehen.
Der finale Auftritt von Bamousso Leyla Kamara verfehlt seine Wirkung beim Publikum nicht. Doch darf man ein persönliches Trauma, es mag noch so sehr auch ein gesellschaftliches sein, in einem Hochkulturtempel dermaßen ausstellen? Eine Frau, die in aktiver Erinnerung des Erlittenen vor einem übersättigten westeuropäischen Publikum zu weinen beginnt? Es ist ein moralischer wie ästhetischer Grenzfall – der jedoch vollauf gerechtfertigt wird. Denn die Regisseurin Signeyrole entwickelt ihr Stück mit der Haupttänzerin Stencia Yambogaza als Flüchtende auf eine immer größere Nähe der Betrachter zur Protagonistin hin.
Krieg und Bomben im Heimatland, ein Folter- und Vergewaltigungsmartyrium in libyschen Internierungslagern, eine gefahrvolle Überfahrt auf dem Mittelmeer und schließlich die demütigenden Befragungen der europäischen Grenzpolizei: Dramaturgisch wird dies alles in Marie-Ève Signeyroles Stück durch Musik gegliedert – durch Beethovens Siebte Sinfonie, die vom Orchester der Deutschen Oper unter Generalmusikdirektor Donald Runnicles gespielt wird. Signeyrole sieht Beethovens Sinfonie, die schon von Zeitgenossen als musikalische Feier des Siegs über Napoleon gehört und gedeutet wurde, nicht zu Unrecht als Kriegssinfonie, der viel Brutalität innewohnt. Die klassische Form, dazu die heroische Geste: Beides steht zum Geschehen auf der Vorderbühne quer. Es erfordert einige Überwindung, sich dem auszusetzen. Das kann allerdings fruchtbarer sein als die musikalische Begleitung der grausigen Geschehnisse auf dem Flüchtlingsboot durch den Klezmer-Klarinettisten Yom und sein Quartett mit Schlagzeug, Klavier, Geige und Klangeffekten. Sowohl die Band als auch das Orchester spielen eigene musiktheatrale Stärken aus – für eine einheitliche Gesamtwirkung wäre es aber vielleicht besser gewesen, sich für Beethoven oder für Klezmer zu entscheiden.
Aber vielleicht ist diese scheinbare Unschlüssigkeit auch von Signeyrole gewollt. Ganz sicher will sie vermeiden, das Erzählte in einem allzu geschlossenen Kunstwerk ästhetisch zu verpacken und zu entsorgen. Die Textprojektionen sorgen dafür, dass das Bühnengeschehen stets an die grausame Realität rückgebunden wird. Links tauchen auf einer Tafel immer neue Namen von Frauen und Kindern wie Grabsteine auf, die auf der Flucht unter grausamen Umständen starben. Die Haupttänzerin Stencia Yambogaza darf ihr enormes Können zeigen, doch dieses beruht auf der Fähigkeit zum knappen Ausdruck, zur Verkörperung eines menschlichen Fanals. Gegen das Eigengewicht der Ereignisse stemmt sich ihre Kunst zu Recht nicht.
Wirklich spannend wird es, als es um die Geschehnisse an der europäischen Außengrenze geht. Yambogaza sucht sich als Schwarze scheinbar zufällig eine mitteleuropäisch aussehende Frau aus dem Publikum. Die Tortur der Befragung durch den Grenzbeamten (Tarek Aït Meddour) verfolgt sie dann aus dem Publikum heraus. Nun steht die Zuschauerin auf der Bühne. Sie entpuppt sich als die US-amerikanische Tänzerin Annie Hanauer. Sie wird zum weißen Alter Ego von Yambogaza und durchbricht den Mechanismus der europäischen Sichtweise afrikanischer Geflüchtetendramen tanzend: Fluchtschicksale sind allgemein menschliche Tragödien und nicht genuin eine „Krankheit“ von armen Schwarzen Menschen, wiewohl solche Schicksale diese Menschen so beschämend oft treffen. Regisseurin Signeyrole identifiziert hier die Flüchtenden mit den Opernbesuchern, wie dies stärker und eindrücklicher auf einer so großen Bühne wie der der Deutschen Oper nicht ausgedacht werden kann. Die echten Tränen einer Geflüchteten auf der Bühne sind nur die letzte, starke Konsequenz. Sie sind Kunst, obwohl sie echt sind.