Foto: Pia Noll und Zora Fröhlich in „Die weiße Krankheit“ am Schlosstheater Celle. © Hubertus Blume
Text:Jens Fischer, am 13. März 2021
Die Suche nach dem Corona-Drama hat ein Ende. Es wurde bereits 1937 in Prag uraufgeführt, ist „Die weiße Krankheit“ betitelt und stammt vom tschechischen Autor Karel Čapek. „Eine Pandemie. Eine Seuche, die lawinenartig die ganze Welt erfasst“, ist darin zu lesen, aus China komme sie, ihr seien bereits fünf Millionen Menschen erlegen, „einige Dutzend Millionen sind akut betroffen, und mindestens dreimal soviel laufen durch die Welt und wissen es gar nicht.“ Übertragen werde die Krankheit beispielsweise durch Händeschütteln, befalle vor allem Ältere, Infizierte müssten isoliert werden… aber Čapek ist kein Corona-Prophet. Er nutzt die Seuche vor allem als politische Allegorie auf virale Ideologien – im totalitären Russland, unter der Diktatur Mussolinis und im erblühenden Nationalsozialismus. Wie schon in Albert Camus‘ „Die Pest“ erwachsen aus der physiologischen und psychologischen Betrachtung einer Pandemie politische Analysen und philosophische Reflexionen.
Čapeks Handlung dreht sich um einen „Marschall“, Adolf Hitler ist wohl gemeint, der einen Eroberungskrieg plant und dabei ein winziges Nachbarland, etwa Čapeks Heimat, im Vorübergehen einkassieren will. Da das gerade nicht so aktuell ist, hat Andreas Döring, Intendant des Celler Schlosstheaters, einen dicken Überschreibungsstift aus der Schublade geholt, die pazifistisch-antifaschistische Abrechnung der 1930er-Jahre durch heutige Diskurse ersetzt und das ewig lange Personenregister auf vier Figuren konzentriert. Die Grundstruktur der dramatischen Konflikte bleibt erhalten, das recht farcenhaft rumpelige Vorführen der Repräsentanten des politisch-ökonomischen Machtapparates und ihrer Verblendungsmaschinerie ist rundumerneuert. Da „Die weiße Krankheit“ nach Angaben des Celler Theaters noch „nie auf einer deutschsprachigen Bühne aufgeführt“ wurde, kam die Online-Premiere nun als „deutsche Uraufführung“ heraus. Im Breitwandbühnenbild (Ausstattung: Sabina Moncys) eines steril hellen Raumes, in dem auch die gräulichen Business-Kostüme, trotz Kombination mit orangenen Plastikhandschuhen, nicht von den Worten ablenken.
Da coronaverordnungsgemäß auf Abstand agiert werden muss, findet kaum Interaktion statt. Minimalistisch, steif und statisch hat Tim Egloff inszeniert. Die Schauspielerinnen bleiben in den Dialogen daher häufig mit ihren Ausführungen allein. So kommt es immer wieder zu gravierenden Spannungsabfällen. Zusätzlich hinderlich ist die schwankende Tonqualität und -lautstärke der abgefilmten Aufführung. So sind keine ausdifferenzierten Charaktere, nur vier Thesenträgerinnen zu erleben, die Positionen der Wissenschaft, Medizin, Politik und Medien zum Thema Verantwortung abliefern. Und dabei aufzeigen, dass Menschen in Krisensituationen schnell in den nichtaltruistischen Überlebensmodus umschalten. In dem Stück schachern alle gesellschaftlichen Gruppen wie Lobbyisten um die eigenen Vorteile.
In Dörings Fassung gehört dazu der Ausschluss der Öffentlichkeit in Sachen Pandemiepolitik. Nicht unähnlich der Bundesregierung, die auf Parlamentsdebatten sowie auf zivilgesellschaftliche Mitsprache verzichtet, damit eine wichtige Chance der Legitimation vergibt und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Unterbau der Seuchenbekämpfung ausdünnt, was Entflechtung sowie Entfremdung zwischen Bürgern und Politik fördert. Das Aggressionspotenzial steigt. Bei Čapek marodieren daher fanatisierte Massen, Deutschland einig Faschistenland, in der Celler Fassung wird von unberechenbaren Leugnern der unbequemen Pandemie-Wahrheit berichtet, die dem Staat und seinen Maßnahmen grundsätzlich misstrauen: eine „Ansammlung von Fehlgeleiteten, die wie hirnlose Lämmer mit Wölfen zusammen demonstrierten“, so ist auf der Bühne zu hören. Wie in der Vorlage tötet dieser Mob auch in Celle, so erzählt eine Schauspielerin, die mögliche Erlöserin von der Pandemie, dann „wälzte sich die Menge vorwärts Richtung Regierungssitz!“ Da darf dann schon mal der Sturm auf das Kapitol in Washington assoziiert werden.
Um die wachsende Spaltung und Radikalisierung der Gesellschaft geht es in der Aufführung. Sie als Gefahr für die Demokratie zu behaupten, gelingt mit zugespitzten Argumentationen. Obwohl Autor Döring oberflächlich Čapeks Vermengung des Bekämpfens der Pandemie mit dem Erkämpfen des globalen Friedens verhandelt. Dr. Galen (Bérénice Brause) hat Medizin wider das Virus entwickelt, will die Rezeptur aber nur verraten, wenn alle Regierungen schriftlich auf alle Kriege und jedwede Rüstungsproduktion verzichten. Furchtbar naiv, notwendig erpresserisch, perfide revolutionär? Die Pandemie als Chance für Weltfrieden? Nicht nur an die Regierenden gehen Galens Appelle, auch dem Mitarbeiter einer Waffenfabrik verweigert sie die Behandlung, weil er im Gegenzug dort nicht kündigen will. Eine Moraldebatte von geradezu Schirach’schem Ausmaß hebt an. Müssen Ärzte jedes einzelne Leben retten oder dürfen sie den Tod vieler in Kauf nehmen, um der restlichen Menschheit das friedliche Überleben zu sichern? Und wer wird dann zuerst geimpft? Darf man aus Heilmethoden überhaupt ein Geschäft machen? Sind so schwierige Fragen…
Was die Wirkung der erregten Talkshow-Gemengelage aber einschränkt, ist die Verfilmung. Der Trailer wurde noch prima geschnitten und bringt die Handlung mit einer eigenwilligen Dramaturgie in einer Minute auf den Punkt der ethischen Problemstellung. Dem kompletten Theaterfilm derselben Produktionsfirma aber fehlt ein ästhetisches Konzept. Recht wahllos wechseln die Kameraperspektiven, -fahrten wirken ebenso ratlos eingefügt wie Split-Screen-Design und Bilder in Überwachungskamera-Anmutung. Sprechende sind in der Totalen häufig nicht zu sehen, weil sie hinter Bühnenbildstreben stehen. Die Aufführung wirkt teilweise wie eine Durchlaufprobe, die Filmfassung passt sich diesem Duktus an. Zwei vorläufige Ergebnisse eines künstlerischen Prozesses. Die analoge Premiere soll nach dem Theater-Lockdown stattfinden.