Foto: Im Augenblick des Chaos: Szene aus Jan Neumanns Stückentwicklung © Sonja Rothweiler
Text:Elisabeth Maier, am 10. Dezember 2012
Den weiten Weg vom Paradies in die Hölle beschreitet der Maler Hieronymus Bosch in seinem Triptychon „Der Garten der Lüste“. Das um 1500 entstandene Gemälde wählte das Staatsschauspiel Stuttgart als Spielzeitmotto. Vom traumatischen Szenario zwischen Schöpfung und Fegefeuer hat sich der Regisseur und Autor Jan Neumann in seiner Stückentwicklung „Im Augenblick das Chaos“ inspirieren lassen. In der klug konzipierten Uraufführung spielt der Virtuose ironischer Nadelstiche mit der Tiefe des Monumentalbildes, das übergroß im Foyer der Spielstätte Nord hängt. Die Schwere von Boschs Bilderwelt löst er in komischen Momenten und Slapstick auf. In einen schwarzen, mit Blattgold verzierten Bilderrahmen, der dreigeteilt ist, hat Ausstatterin Dorothee Curio die Figuren gebannt. Sie erinnern an die mittelalterlichen Gestalten des niederländischen Meisters. Ihr strähniges, aschblondes Haar sieht befremdlich aus. Säugetiergerippe und ausgestopfte Vögel ragen aus der Bretterbühne. Die Faszination des Morbiden reizt die Künstlerin.
Wie in einem Mysterienspiel arbeitet Neumann mit Bildern, die gewaltige Themen haben. In „Schöpfung“ treffen sich die vier Kinder eines Atomphysikers, um den 65. Geburtstag ihres Übervaters zu feiern. Der jungen Lisa Bitter als einsamer Streberin gelingt der Spagat zwischen Familienzwist und metaphysischer Tiefe. Durch ihre Bewunderung stilisiert sie den Wissenschaftler zum Gott. Zugleich wirft ihre Suche nach Halt theologische Grundfragen auf. Sebastian Röhrle mit seinem Gespür für Komik holt sie auf den Boden zurück. Der Versager der Familie steckt voller Hass. Liebe hat es in der kalten Welt nie gegeben.
Neumanns ungewöhnliche Arbeitsweise, die auf Improvisationen und Gedanken der Schauspieler fußt, offenbart sich schön im Bild von der „Unschuld“. Da zerbricht eine Jungenfreundschaft an der ersten Liebe. Sensibel erfasst Matthias Kelle jenen Augenblick, wenn die Leidenschaft des Knaben in Hass umschlägt. Da verliert er seinen naiven Glauben. Das tut auch die eine Spur zu wohlmeinende Gabriele Hintermaier als Adoptivmutter, als ihr angenommener Sohn aus einem Entwicklungsland zum Verbrecher wird.
Die Keckheit, mit der Neumann sich Boschs bizarre Bilderwelt aneignet, ist erfrischend. In einer pointierten Alltagssprache verhandeln die Schauspieler Gewichtiges. Nachdenken über die Kunst ist hier dramaturgisches Prinzip. Den düsteren Bildteil, in dem Menschen in der „musikalischen Hölle“ schmoren, empfinden die Schauspieler großartig nach. Quälendes Tröten und Röhren steigert Thomas Osterhoff in seiner Musik bis zum Exzess. Schwächen offenbart die Regiearbeit erst im vierten Bild, das der Liebe und der Selbstfindung eines jungen Mannes gewidmet ist. Da verheddert sich Neumann doch noch in verkopfter Theorie. Er bemüht Philosophen von Nietzsche bis Foucault und schafft es nicht immer, deren Gedanken in griffige Zeichen zu fassen.