Foto: Maria Rosendorfsky als Lulu © Jochen Klenk
Text:Eckehard Uhlig, am 10. Februar 2017
„Über die ließe sich eine interessante Oper schreiben“, sinniert ihr letzter Liebhaber, der Möchtegern-Komponist Alwa (Michael Gniffke) über den männermordenden „Würgeengel“ Lulu. Sich ironisch-autobiographisch zitierend, hat in der Realität Alban Berg die Lulu-Oper nach Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ geschaffen. Sein moderner Opernklassiker stellt freilich höchste Anforderungen an Sänger und Orchester – Herausforderungen, die das Ulmer Stadttheater in einer überaus respektablen Wiedergabe einlöst.
Regisseur Matthias Kaiser, der Bergs Originalfassung mit dem Fragment gebliebenen 3.Akt seiner Inszenierung zugrunde legte, hat auch die heiklen Szenen ohne die heutzutage üblichen Regietheater-Mätzchen einfallsreich aus dem literarischen Stoff und aus der Musik heraus entwickelt. Die Ausstatter liefern ein stimmiges Bühnenbild (Detlev Beaujean) und – teils gewagte, aber durchaus gerechtfertigte – Kostüme (Angela C.Schuett) dazu. Vor allem aber werden der (von Berg aus einer Zwölftonreihe komplex entfaltete) Orchestersatz und die raffiniert zwischen deklamatorischem Parlando und Koloraturen changierenden Singstimmen pass- und punktgenau zur oft expressionistisch überdrehten Handlung umgesetzt – herausragende Leistung des von Generalmusikdirektor Timo Handschuh geleiteten Philharmonischen Orchesters Ulm und der Ulmer Vokalsolisten.
Ein rot-schwarz gestreiftes Zeltdach, das die vorhanglos offene Bühne und das Zuschauer-Parkett überspannt, sorgt im Großen Haus des Ulmer Theaters für Zirkusatmosphäre. Zudem begrenzen rechts und links auf der Bühne mit Publikum besetzte Zuschauerreihen die kreisrunde Spielfläche und verstärken – wie auch das Auftrittsportal im Hintergrund – den zirzensischen Eindruck. Gleichzeitig konzentriert diese Bühnengestaltung alle Aufmerksamkeit auf die Handlungs-Mitte. Dort treiben es Lulu und ihre Gespielen, ihre Verehrer, ihre Liebhaber und Freier und tauchen ins Rotlichtmilieu ein: Manege frei für ein wahrhaft monströses Melodram!
Im Prolog präsentieren sich allerhand weiß eingekleidete, mit Tiermasken bestückte Figuren balletteus-pantomimisch als Zirkus-Bestarium. Ein Clown haut auf die Pauke. Alle sind Widergänger der späteren Protagonisten, insbesondere die große Attraktion, Lulus Alter Ego, die rot und schwarz gewandete, sich verführerisch und geschmeidig windende Schlange (Beatrice Panero). Bald räkelt sich Lulu (Maria Rosendorfsky) im neckischen roten Hemdchen lustvoll mal auf weißen Sesseln und Sofas, mal auf Staffage-Leitern oder in Hängematten, wo sie sich im Auftrag ihres Medizinalrats-Gatten (Benjamin Künzel) von einem jungen Maler (Johannes Grau) porträtieren lässt. Natürlich folgt die triebhaft-sexistische Maler-Modell-Beziehungskiste – wer hier allerdings wen gierig bedrängt, bleibt ungeklärt. Jedenfalls trifft den arglosen Medizinalrat der Schlag, als er die beiden in flagranti erwischt. Und auch der Maler, danach Lulus zweiter Gatte, wird selbstmörderisch Opfer der Eifersucht. Den dritten, allerdings langwierigen Opfergang geht Dr.Schön (Tomasz Katuzny), der Lulus Aufstieg arrangiert hat, ihrer sinnlichen Anziehungskraft aber schließlich ausweglos und verzweifelt verfällt und von ihr erschossen wird.
Im Bruchstück des 3.Akts vollzieht sich Lulus, von besagtem Alwa assistierter Abstieg in die Gosse hemmungsloser Prostitution, der endlich Jack the Ripper ein Ende setzt. Darstellerisch und musikalisch mitreißend fesseln die Handlungshöhepunkte. Etwa Lulus besitzergreifendes Liebesverlangen, mit dem sie Dr.Schön in die Enge treibt – zu süffig lyrischer Musik. Als er sich ihr entziehen will, kommt es zu dramatischen Dialogen, darauf zum ebenso heftigen Eifersuchtsstreit zwischen dem Maler und Dr.Schön: Da glüht Lulus Sopran koloraturig in höchsten Höhen, schwelgt Dr.Schön in baritonal-sonorer Leidenschaft, ereifert sich klangvoll-markant des Malers Tenor. Ab und an wandelt Lulus Dämon Schigolch (J.Emanuel Pichler) irrlichternd durch die Szene. Und die Orchestermusik bäumt sich gewaltig auf.
Noch andere Vorzüge dieser im Farbenkontrast Rotschwarz und Weiß gehaltenen Aufführung sind herauszustellen. Rosendorfsky ist als Lulu eine Wucht, eine attraktive Idealbesetzung. Ihr Gesang verfügt über silbriges Kokettieren, über verzweifelte Zartheit, schrilles Aufbegehren und fassungsloses Leiden. Sie strahlt im langen, eng anliegenden dunkelroten Samtkleid, flunkert erotisch im transparent schwarzen Ganzkörper-Body und kann es sich leisten, von schwül musizierenden Blechbläsern, hellen Streichern und flirrenden Flöten begleitet, als Tänzerin im Tutu anstößig-lasziv über einen Diwan zu lehnen. Sie ist Herz, Leib und Seele des Stücks. Ein Glücksfall ist die Ausgestaltung des abschließenden Akt-Bruchstücks. Kammermusikalisch klar, gleichzeitig nachtschwarz narkotisierend erklingt das sinfonische Adagio, zu dem – als hätte es von Beginn an dazugehört – das Ballett der weißen Zirkus-Tiermasken (Choreographie: Roberto Scafati) erneut auftritt. Die tänzelnden Akteure vergewaltigen Lulu auf ihrem Bett andeutungsweise in allen Kamasutra-Variationen und legen einen sinnfälligen Rahmen um die Gesamt-Inszenierung.
Anrührend kommt der Abgesang der lesbischen, in Lulu abgöttisch verliebten Gräfin Geschwitz (Chiao Shih) über die Bühnenrampe. Wenn sie „Lulu. Mein Engel“ anstimmt, liefert sie den Beweis, wie klangintensiv die von vielen als gewöhnungsbedürftig eingestufte Komposition Alban Bergs leuchten kann. Nach Karl Kraus ist Lulu die „Tragödie von der gehetzten, ewig missverstandenen Frauenanmut“. Das gilt auch für die Ulmer Opern-Fassung.