Foto: Lanzelot in Weimar/Erfurt, hier Juri Batukov (Charlesmagne), Uwe Stickert (Heinrich), Oleksandr Pushniak (Drache), Emily Hindrichs (Elsa) und Máté Solyom-Nagy (Lanzelot). © Candy Welz
Text:Roberto Becker, am 24. November 2019
„Lanzelot“ ist ein Phänomen der (ost-)deutschen Opernmoderne. Ein Alterswerk von Paul Dessau (1894-1979), zu einem Libretto von Heiner Müller (1929-1995). Nach einem Märchen von Andersen und des Russen Jewgeni Schwarz aus dem Jahre 1943, das fast zwanzig Jahre auf seine Uraufführung warten musste. Was Komposition und Libretto betrifft, hatten sich also zwei kommunistische Dick-, aber gleichzeitig auch Querköpfe gefunden! Dass ihr Werk 1969 – vier Jahre nach dem berüchtigten kulturellen Kahlschlagplenum der SED 1965 – in der Regie von Dessaus Ehefrau, Theaterikone Ruth Berghaus, an der Deutschen Staatsoper in (Ost-)Berlin uraufgeführt werden konnte, ist an sich schon erstaunlich.
Immerhin geht die Parabel um diktatorische Strukturen und die Passivität der Massen, die es noch allemal verstehen, sich in derartigen Verhältnissen einigermaßen einzurichten. Dazu behauptet die Musik Dessaus auch ästhetisch selbstbewusst ihren Platz in der avancierten Moderne. Allenfalls der pure Aufwand, der auf der Bühne und im Graben entfesselt wird, deutet auf ein mitschwingendes didaktisches Pathos. Aber wenn schon einer der schärfsten Denker unter den Dramatikern des Jahrhunderts mit einem Libretto und ein Könner wie Dessau gemeinsam gegen den Stachel löcken und Kunst machen, dann kann die Nachwelt nur staunen. Bei der Mitwelt, sprich der damaligen DDR-Kritik, bedurfte es schon einiger dialektischer Verrenkungen, um den generell auf diktatorische Strukturen gerichteten Blick des Stückes auf eine Gesellschaftskritik westlicher Verhältnisse einzuhegen. Von heute aus betrachtet müssen da wohl auch ein paar zuständige Funktionäre dezidiert weggehört oder weggesehen haben.
Ein allzu langes Bühnenleben war „Lanzelot“ nach seiner Uraufführung freilich nicht beschieden. Es gab nur zwei Folge-Inszenierungen: im April 1971 in München und 1971/72 in Dresden. Dem Schluss der Oper fügte Dessau ein paar Takte hinzu, um sie etwas optimistischer enden zu lassen. Danach verschwand „Lanzelot“ im Archiv und verschlief dabei auch die Kollisionsnähe, die es mit den Zeitläuften 1989/90 erreichte. Im zweiten Teil ist „Lanzelot“ – wie man jetzt in Peter Konwitschnys Inszenierung für Weimar und Erfurt sehen konnte – durchaus auch ein Stück, das die sogenannte Wende in den Blick nimmt. Wenn der Bürgermeister und sein Sohn und mit ihnen alle Bewohner der Stadt die Krawatte mit dem Drachenlogo gegen das neue mit dem Herzen austauschen, ansonsten aber im Grunde alles beim Alten bleibt. Wenn sie schnell vergessen, wer sie da – im Grunde gegen ihren Willen – vom Drachen befreit und ihnen zur Freiheit verholfen hat. Da hat die reale Geschichte das Stück ein-, ja überholt. Das ist verblüffend. Konwitschny setzt dann noch einen drauf und lässt am Ende ein Boot mit Flüchtlingen mitten in der Siegesfeier stranden. Da durchweg das Verhältnis von Massen und Herrscher (ob nun ein jungfrauenverschleißender Drache oder ein korrupter Bürgermeister) im Visier ist, entfaltet das Werk wie von selbst seine Relevanz für heute.
Nur Elsa, die Jungfrau, die aktuell den Drachen heiraten, also ihm geopfert werden soll, behält den Durchblick in dieser Welt der Manipulation (durch eine Mischung aus Konsum und Indoktrination). Sie hat sich in den Außenseiterhelden Lanzelot verliebt, wird von ihm gerettet, weil er den Drachen erlegt. Und sie macht auch nicht mit, als die alten „gewendeten“ Eliten sich plötzlich selbst als die Befreier verkaufen und zu Drachentötern erklären! Elsa ist hier eine Heldin, also für den Regisseur, der immer das Schicksal der Frauenfiguren in seinen Inszenierungen besonders aufmerksam im Blick hat, genau die Richtige! Ausstatter Helmut Brade deutet sparsam an, macht die Überschriften der Bilder von dem naiven Paradies des Anfangs, den Steinzeitmenschen, der Schulstunde oder dem Überwachungsraum mit einfachen Mitteln sinnfällig. Für die zwei gewaltigen Schlagzeuggruppen, die für den Drachen stehen, gibt es auf der Bühne zwei bewegliche Wagen, die wie Käfige beleuchtet sind. Das Feuerspeien des Drachens ist auf einen Gasanzünder beschränkt. Vor dem großen Duell lässt sich der regierende Drache von Kindern die ins Negative uminterpretierten Heldengeschichten Lanzelots vorführen (wenn der dann wie Siegfried sein Schwert schwingt, springt der Witz der Szene auf die Zuschauer über). Wenn der Drache die drei Musiker, die eine martialische Waffenschau von Drohnen bis zu Raketen konterkarieren, ausschaltet, tauchen die auf der Leinwand als musizierende Engel wieder auf.
Für Elsa und ihre prototypisch sich arrangierende Familie daheim hat Brade ein kleinbürgerliches Wohnzimmer mit großbemusterter Tapete parat. Die Kostüme aus pionierblauen Röcken und weißen Blusen und Kniestrümpfen von Elsas „Freundinnen“ haben einen Hauch von politischer Gleichschaltung, die begehrten gleichen Marken, die unters Volk gebracht werden, von der des Massenkonsums. Die Szenen schlagen einen Bogen von der Steinzeit über die Hochzeiten der Diktaturen über die „Wende“ bis in die Gegenwart. Was da szenisch abgeht, korrespondiert mit der abwechslungsreichen, aus dem Vollen des Erbes und der eigenen Ambition schöpfenden Vitalität von Dessaus grandioser und höchst lebendig wirkender Musik.
Der nicht mal dreißigjährige Weimarer Kapellmeister Dominik Beykirch beweist im Graben erneut sein Ausnahmetalent – er hält diesen nicht weniger als die Weltgeschichte reflektierenden edlen Lärm fabelhaft zusammen. Von den 30 Solopartien profilieren sich natürlich Emily Hindrichs als Elsa und Máté Sólyom-Nagy als Lanzelot als das Paar der Oper, das sich zueinander kämpfen muss. Auf der anderen Seite ragen Oleksandr Pushniak als der schwergewichtig donnernde Drache und besonders der bestechend klare Wolfgang Schwaninger als opportunistischer Bürgermeister heraus. Aber auch alle anderen Protagonisten lassen keine Wünsche offen und tragen neben den von Jens Petereit, Andreas Ketelhut und Cordula Fischer präzise einstudierten, sich phantastisch ins Zeug legenden Chören ihren Teil zu einem grandiosen Opernabend bei.
Mit vereinten Kräften haben zwei Häusern ein erstaunlich frisch wirkendes und 50 Jahre ignoriertes Stück Operngeschichte der DDR ausgegraben. Regie-Altmeister Peter Konwitschny und Brade, sein langjähriger Mitstreiter für die Ausstattung, waren dafür genau die Richtigen, intellektuell sowieso! Aber auch ästhetisch trifft Konwitschny mit seinem verknappenden, auf den Kern der Stücke zielenden Stil auf ein Stück, das wie für ihn gemacht zu sein scheint. Es zeigt sich also, diese Weimarer Produktion ist ein Muss für jeden Opernfan – und eine Anregung für jeden Intendanten… Der Beifall des Premierenpublikums war einhellig; am 16. Mai 2020 hat „Lanzelot“ in Erfurt seine zweite Premiere.