Foto: Don Alvaro (Tomohiro Takada), Don Profondo (Timo Riihonen), Baron von Trombonok (Ks. Jörg Dabrowski), Madame Cortese (Agnieszka Hauser), Marquise Melibea (Tania Jibladze) und Graf von Libenskof (Anton Rositskiy) © Olaf Struck
Text:Christian Strehk, am 29. Januar 2017
Man kennt das ja inzwischen zur Genüge. Regisseure kommen sich wer weiß wie Up-to-date vor, wenn sie ihre Bühnenfiguren mit der Handkamera herumfummeln lassen oder über irgendwelche Screens böse Aktualitäten hinzublenden. Da brät wahrlich nicht immer etwas wirklich Gutes dabei heraus. Inzwischen ist technisch aber viel möglich. Und der Kult um die Berliner „Zauberflöte“ in Barrie Koskys bewegter Komischer Oper, wo die Animationsästhetik der Gruppe „1927“ eine Mischaura von Bühnenaktion, Stummfilm und Comic-Strip mit hohem Unterhaltungswert geschaffen hat, kommt nicht von ungefähr. Auch an der Staatsoper Hamburg spielte zuletzt Mozarts Notenhandschrift schon während der Ouvertüre comicmäßig verrückt.
Und in Italien hat sich mit dem Freundesgespann Pier Francesco Maestrini (Regie) und Joshua Held (Cartoon und Konzeption) ein Team formiert, das 2010 für eine Tournee durch Brasilien Rossinis „Barbier“ als Zeichentrick-Film animierte, aus dem die Figuren dann als leibhaftige Sänger heraus und hineintreten. Letzteres hatte Kiels Operndirektor Reinhard Linden bei der Wiederauflage in Italien begeistert und dazu gebracht, die Technik des Agierens vor einem bühnenbreiten Zeichentrick-Prospekt in Kooperation der Theater in Kiel und Lübeck nach Schleswig-Holstein zu locken.
Fliegende Pferde, phallische Flora und Fauna, wirre Weltbilder, Liebeshändel und Lobhudelei, Brexit und Banales: Hier geht wirklich alles durcheinander, wie es gerade kommt. Zum ungeteilten Vergnügen des Premierenpublikums an der Oper Kiel wird nun Gioacchino Rossinis mit Abstand durchgeknallteste komische Oper, „Il viaggio a Reims„, in ein Feuerwerk herrlich sinnlosen Amüsements verwandelt – klamaukige Rohrkrepierer inklusive. Dazu entfacht Daniel Carlberg mit den Kieler Philharmonikern ein prasselndes Rossini-Feuer, wie man es derart frech und rasant wahrlich nicht alle Belcanto-Tage geboten bekommt.
Das gesamte, extrem virtuos geforderte Ensemble treibt somit auf eigenständige Weise den Trend zur Verquickung von Zeichentrick-Projektionen und kantatenhaft handlungsfreier Bühnenaktion voran, wobei sich – anders als im „Barbier“ – nur das befrackte Hotelpersonal als animiertes Eins-zu-Eins-Zitat auf der Leinwand wiederfindet. Was die im Badehotel zur „Goldenen Lilie“ auf dem Weg zur Krönung des vorletzten französischen Königs gestrandeten Multikulti-Europäer auch an Befindlichkeiten, Liebeshecheleien oder Verschrobenheiten von sich geben – es wird vom handgezeichneten und computeranimierten XXL-Cartoon im Hintergrund kommentiert, unernst überhöht und wo irgend möglich ad absurdum geführt. Regie und Ausstatter (Alfredo Troisi) verwandeln die Figuren in grelle Narrenkäfig-Karikaturen und drapieren das Hotelpersonal (Choreinstudierung: Lam Tran Dinh) sowie lauter schräge Vögel wie den Satyr, Zeus oder den mäßig treffsicheren Amor in rein virtuelle oder auch mal reale Zusatzmitspieler.
Rossinis vokale Zumutungen werden am brillantesten von der argentinischen Sopranistin Mercedes Arcuri als modeverrückte französische Gräfin von Folleville hingezirkelt. Aber auch Tatia Jibladze hat als hier schwerst nymphomane polnische „Edelfrau“ Melibea in den Extremausschlägen ihrer „Contralto“-Partie ganz starke Passagen. Belcanto-Verzierungen als ausnotierte Lustschreie – auch mal schön …!
Agnieszka Hauzer (als jodelnde Hotelbesitzerin Madame Cortese) und Timo Riihonen (als italienischer Antiquitätenjäger Don Profondo) kennt man aus dramatischeren Stimmgefilden, ist aber ausgesprochen positiv überrascht von ihrer spürbaren Freude an Koloraturwitz. Die militaristischen Testosteron-Bomber verkörpern ein spanischer Admiral und ein russischer General: Tomohiro Takada erhält seinem Don Alvaro die Bariton-Würde des Machos, während Anton Rositskiy die irren tenoralen Höhenflüge des geilen Grafen von Libenskof wie Gazprom-Fackeln abbrennt. Lori Guilbeau fehlt es in der Überspannung der Premiere noch etwas an Lockerheit, um die kontrastierenden melancholischen Hymnen der Römerin Corinna ganz frei und sauber ausschwingen zu lassen. Aber sie hat ja auch viel damit zu tun, sich der unerhörten Anmache durch den französischen Lüstling Belfiore zu erwehren. Den rüstet der portugiesische Tenor João Terleira mit unbekümmertem Leichtmatrosen-Tonfall.
Wie dann alle ausnahmsweise an einem Strang ziehen, um die „God-shave-the-queen“-Briten mit ihrem Whiskey-depressiven Lord Sydney (mächtig, aber auch mal etwas matt: Bass Matteo Maria Ferretti) im europäischen Boot zu halten, das macht wirklich Laune. Auch der deutsche Major von Trombonok, den Jörg Sabrowski schön aufgeblasen zwischen Einstein, Wagner-Karikatur und Merkel-Raute changieren lässt, trägt dazu bei. Dass es zwischendrin auch mal Leerstellen und Blödelei gibt – geschenkt! Der Spaß überwiegt.
Daniel Carlberg unterfüttert den kross knatternden Orchestersound, in Kiel unüberhörbar in „historisch informierter“ Aufführungspraxis und Sitzordnung, durch die herrlich knorrigen Bässe des neuen „alten“ Hammerflügels. Freude bereiten auch die rauschhaft konzertanten Soli in Flöte (Ursula Freimuth) und Harfe (Birgit Kaar). Das vollständig verrückte Rossini-Experiment ist jedenfalls geglückt – zumindest als reine Unterhaltung. Aber das war bei der Berliner „Zauberflöte“ ja auch nicht anders …