Das ungewohnte Fokussieren des Betrachters im VR-Theater zeigt sich im Tempo von Tanzschritten und Drehungen noch eindrücklicher als im Schauspiel: Weil man die eigene Perspektive im 360-Grad Raum immer selbst auswählen muss, ist nie die komplette Bühnenbreite sichtbar, was zur Folge hat, dass Tänzer urplötzlich hinter einem stehen, im Kreis rennen oder sich unter dem eigenen Zuschauerkörper hervorwinden. Spätestens hier wird klar, weshalb der empfohlene Drehstuhl seinen Sinn hat: Man muss dem Geschehen auf der Bühne durch Drehen um die eigene Achse folgen!
Tänzerisch sind die kurzen Szenen zur elektronischen Musik von Robin Rimbaud alias Scanner nicht mehr als geschickte, sehr individuelle Improvisationen, die im Spiel mit Nähe und Distanz zum Zuschauer dennoch fesseln: Wenn ein Tänzer langsamen Schrittes auf einen zugeht, der Kopf erst wenige Zentimeter vor dem eigenen zum Halten kommt – und man kurz zusammenzuckt, ob jetzt ein Kuss oder doch eher eine Kopfnuss folgt. Oder wenn einem die filigrane Hand ins Gesicht fasst, sich die muskulöse Achselhöhle direkt vorm Auge wegdreht. Natürlich (und leider) fehlen Ensembles, die Corona-Kontaktsperre wurde streng befolgt und Tänzer nur einzeln oder zu zweit gefilmt. Dennoch bekommt man eine Ahnung, was möglich ist in einem Theater ohne reale Menschen. Das Staatstheater Augsburg ist unter André Bücker in eine große Experimentierphase eingetreten, als nächste VR-Produktion war für Mai Glucks Barockoper „Orfeo ed Euridice“ als immersives Gesamtkunstwerk aus Live-Klang und VR-Szenen geplant. Vermutlich wird das nun erst in der nächsten Spielzeit auf die Bühne kommen.
Als ausschließlichen Ersatz für reales, emotionales, schweißtreibendes, aufwändiges und nicht reproduzierbares Theater werden VR-Inszenierungen hoffentlich keine Option werden. In der momentanen, Corona-bedingten Theaterabstinenz ist es eine große Entwicklungschance für auch zukünftig Mögliches.