Jele Brückner in Bochum in „Liebe / Eine argumentative Übung“

Mit und ohne Spinat

Sivan Ben Yishai; Sibylle Berg: Liebe / Eine argumentative Übung; Viel gut essen

Theater:Schauspielhaus Bochum, Premiere:08.05.2021Regie:Zita Gustav Wende; Anna Stiepani

Ein bisschen Beleuchtung von außen könnte sie noch vertragen, damit sie auch vom Hans-Schalla-Platz vor dem Bochumer Schauspielhaus deutlich zu sehen ist: Die „WeltHütte“, eine Wellblech-Konstruktion mit spitzem Dach, die die Bühnen- und Raumkünstlerin Anna Viebrock eigentlich für die Ruhrtriennale erfand und die nun im Mittelfoyer des Theaters Asyl gefunden hat. Die neue Spielstätte ist Innen- und Außenraum zugleich, als Kulisse verwendbar und innen zu bespielen; die beiden Inszenierungen, die zum Start der „WeltHütte“ entstanden sind, wegen technischer Stream-Probleme über zwei Wochenenden verteilt, probieren beide Spieloptionen aus. Jetzt fehlt halt nur noch der Blick von ganz außen – durch die breite Glasfenster-Front vom Platz herauf.

Sivan Ben Yishai: „Liebe / Eine argumentative Übung“

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Zum Auftakt wurde „Liebe / Eine argumentative Übung“ beschworen – das ist ein Text von Sivan Ben Yishai, der eine ebenso kuriose wie kämpferische Frauen- und Männer-Geschichte erzählt: mit einem der legendären Paare der Comic-Geschichte als zentralem Personal. „Popeye“, dem durch sehr viel Spinat zum Muskelmonster gestählten Seemann mit der Knautsch-Visage samt Pfeife im Mund, wurde seit dem ersten Auftritt in den Zeichnungen von Elzie Crisler Segar 1919 auch eine beim ersten Hinschauen eher wenig auffällige Frau zur Seite gezeichnet: Olive Oyl. Allerdings nur als Freundin eines Freundes – Sivan Ben Yishai, eine der sehr besonderen neuen Autorinnen, die nicht nur, aber auch fürs Theater schreiben, lässt nun diese „Frau Öl“ von Beginn an Popeyes Geliebte werden. Und die Geschichte der beiden spielt heute – er, der Body-Boy, träumt von einer Karriere als Filmregisseur, bringt es aber bislang nur zur Filmgeschichte, kommt nie über zwei Seiten Drehbuch hinaus und jobbt in einer Cafeteria; während sie schon beträchtlichen Erfolg als Schriftstellerin hat, mit drei fertigen und auch ins Deutsche übersetzten Romanen. Der vierte entsteht gerade, als die Lovestory der beiden aus den Fugen gerät.

Zugleich wird allerdings immer auch das Rollenspiel der beiden in der fortlaufenden Comic-Reihe reflektiert und thematisiert, auch und gerade in der Verteilung des Textes auf Frau Olivia persönlich und eine Kommentar- und Erzählerinnen-Stimme, die zuweilen sogar hinüber in die Interviewbefragung wechselt. Da sind also eine Menge Bewusstseinsebenen zu beachten im Solo von und für Jele Brückner, seit Leander Haußmanns Zeiten eine der wichtigsten Stützen der Bochumer Ensemble-Gesellschaft.

Dieser Popeye, eindrucksvoller Schatten eines an sich nur lächerlichen Mannes, herzensgut und intellektuell eher beschränkt, hat sich in diesem Fall zwar immer als „feministischen Mann“ deklariert, aber wohl eher aus modischen Gründen – das tatsächlich schon ausgeprägte künstlerische Profil der Geliebten nahm er nie wirklich zur Kenntnis: ein Dummbeutel, aber womöglich ganz gut im Bett. Sie, Olivia Öl, kämpft den ganzen Text über mit sich selbst – zum einen bleibt sie fundamental verliebt, zum anderen wird auch für sie immer deutlicher, mit was für einer Flachpfeife sie sich da eingelassen hat. Als der Kerl sich auch noch über den weiblichen Körpergeruch beim Sex beschwert, rastet sie schrittweise aus – erinnert sich an einen Kindertraum mit Tigerbaby im Arm und mutiert nun Schritt für Schritt selbst zur Tigerin, die in nicht versiegender Gier durch die Männerwelt streift und sich alles nimmt, was nicht rechtzeitig flüchtet…

Natürlich kann so eine Fabel nicht im kärglichen Wohnzimmer der „WeltHütte“ spielen. Die Inszenierung von Zita Gustav Wende lässt Jele Brückner das komplette Vorderhaus des Theaters erobern: die elegant im Stil der 50er Jahre geschwungenen Treppen und Geländer dieses einzigartigen Theaterbaus, die Umgänge um den Bühnenraum herum… alles, was nicht Bühne ist, wird zum Spielraum; alles, was das Publikum normalerweise so gut kennt, aber so vielleicht noch nie wahrgenommen hat. Während die Stimme aus dem Off erzählt, zieht die Schauspielerin Strippen durch die Räume, knetet merkwürdige, teigartige Massen, windet schwarze Planen um die Säulen im Foyer. Und mit Muskeln aus Pappmaché kann sie sich sogar in eine Art Popeye-Puppe verwandeln.

Am Schluss, als männerverzehrende Tigerin, flüchtet Frau Öl mit Tüten und Taschen auf das Schauspielhaus-Dach – wer weiß, wohin der Weg von hier aus noch führen kann. Ein starker, die Rollen von Frauen und Männern reflektierender Text ist zu entdecken; nur gelegentlich beginnt der feministische Barrikaden-Ton ein wenig zu nerven. Jele Brückner und Wendes Regie führen uns durch ein Theater, das wir kennen – und zugleich auch noch nicht.

Sibylle Berg: „Viel gut essen“

In der zweiten Premiere spielt die „WeltHütte“ tatsächlich mit – in den kleinen Raum hinein hat das Team um Anna Stiepani eine Küche gebaut, in der Bernd Rademacher (auch so ein wunderbares Bochumer Urgestein) eine Art Abschiedsessen vorbereitet. Noch einmal will er kochen für Frau und Sohn, die sich von der auch beruflich gescheiterten IT-Fachkraft getrennt haben. Eine Art apokalyptisches Endzeit-Diner zeichnet sich ab in „Viel gut essen“, dem Stück, das Sibylle Berg 2014 veröffentlichte. In praktisch allen Inszenierungen seit der Uraufführung in Köln wurde zentraler Wert gelegt auf die politische Sprengkraft des Textes – ein in jeder Hinsicht Abgehängter beginnt sich gedanklich immer massiver in die Killer-Phantasien neuer rechter Gruppen hinein zu bewegen; voller Hass auf alles, was neu und anders ist, auf alles, was ihm vermeintlich den Lebensraum nimmt, ihn überflüssig werden lässt. Dann schon lieber Weltuntergang…

Rademacher bleibt in der Bochumer „WeltHütte“ viel privater und persönlicher – ein alternder Hippie mit hängenden Jeans; wenn gegen Ende die Gäste kommen sollen und er sich eine Jacke anziehen muss, ist schon das pure Verkleidung. Nichts passt ihm wirklich, in jeder Hinsicht. Lächerlich ist er wie Popeye zuvor – nur kocht er halt keinen Spinat.

Wieder sind Kommentar und echter Sprecher-Text getrennt und überlappen einander zuweilen; manchmal sitzt Rademacher auch einsam vor der „WeltHütte“-Szenerie und schaut sich selber beim Kochen und Räsonieren zu. Mit ihm und Jele Brückner ist das Abenteuer eröffnet – Anna Viebrocks Wellblech-Haus lädt zu vielfältiger Nutzung ein, in der Pandemie und danach.

Nur (wie gesagt) ein bisschen Licht von draußen wäre gut… damit die Stadt was davon hat.