Foto: Szenenfoto mit Tadas Girininkas (Dolochow) und Tadeusz Szlenkier © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 1. Oktober 2018
Monumentale, unbekannte Oper, leicht gekürzt, schwer in die Gegenwart geholt. Jens-Daniel Herzog eröffnet seine Nürnberger Generalintendanz mit Prokofjews „Krieg und Frieden“
Der kleine Mann mit dem herausfordernden Blick kommt uns bekannt vor: Wenn 1809 beim Petersburger Hochadel, einer heutzutage wohl anders genannten Bevölkerungsschicht, der rote Teppich für den staatstragenden Silvesterball ausgerollt ist, taucht ein von Bodyguards geschützter Herr mit freier Heldenbrust auf – das Pferd bleibt draußen – und grüßt lupenrein ins imaginäre Volk. Ehe die Kronleuchter schweben und der berauschende Sog der Walzerklänge allen verfügbaren Pärchen erst den Atem und dann den Verstand raubt, verlässt er die Gala schon wieder, muss wohl regieren oder posieren, womöglich die Psyche des anrückenden Napoleon Bonaparte im Staatsfernsehen studieren. Den Kaiser mit der breiten Mütze entdeckt man irgendwann auf dem Monitor. Schon im zweiten Bild dieser Aufführung von Sergej Prokofjews wahrhaft kolossaler Oper „Krieg und Frieden“ nach Leo Tolstois Roman, dem bis zum patriotischen Schmetter-Finale elf weitere folgen werden, blitzt in der Nürnberger Inszenierung süffisant die Gegenwart dazwischen. Den Donner hat Regisseur Jens-Daniel Herzog ins Programmheft verlegt, wo er den „Möchtegern-Stalin namens Putin“ und seine „Verklärung der Vergangenheit, um das Volk ruhig zu stellen und seine Geschäfte zu machen“ attackiert. Eine Gastspiel-Einladung nach Moskau wird es für Nürnberg also nicht geben.
Was der feinfühlige Tolstoi über das Schicksal seiner Landsleute und die Widersprüche ihrer Existenz zu Zeiten von Napoleons Überfall auf Russland um 1812 zu sagen hatte, war dem Komponisten ein am eigenen Leib erspürtes Déjà-vu-Menetekel für den 130 Jahre später einsetzenden „vaterländischen Krieg“ zur Abwehr von Hitler-Deutschland. Sein plakatives Schmerzenswerk, das als eines der größten und unbekanntesten der Musiktheater-Geschichte gilt, hat einen Makel, der auch von Vorteil ist. Weil über ein Jahrzehnt hinweg bei den vielen Korrektur-Versionen zu Prokofjews Lebzeiten nie eine „authentische“ Uraufführungs-Fassung entstand, kann jeder mutige Opernchef auch heute an seiner eigenen basteln. Es passiert ja nicht allzu oft, aber der neue Nürnberger Intendant Jens-Daniel Herzog war auf der Suche nach dem unverwechselbaren Amtszeit-Auftakt verwegen genug. Er verlängerte, überwiegend in Gedanken und Requisiten, das ohnehin schon in Bewegung gesetzte Stationen-Drama weiter in die Regie-Gegenwart, ohne dabei das Original zu beschädigen. Zusammen mit Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, die in Fleißarbeit einen trittfesten Pfad durch wucherndes Notenmaterial aus russischen Archiven schlug, braute er das Konzentrat einer Schlankheitskur für die unmäßige Vorlage. Knapp 30 der 70 Rollen verschwanden, bei verbliebenen 3 Stunden reiner Spieldauer sind mindestens 75 Minuten abgeschmolzen. Die Rarität ist immer noch monströs genug.
Der Bilderbogen, wie er in Nürnberg aufgeblättert wird, kommt dem Zuschauer weit entgegen. Vor den Übertiteln der Dialoge haben alle Szenen Einführungstexte wie Erleuchtungsspuren, die neben Zeit und Ort auch die Charakteristik der Beteiligten skizzieren. Man weiß also über die Protagonisten immer schon Bescheid, noch ehe sie auftreten, und kann die Bestätigung überprüfen. Das mag manchmal die Spannung relativieren, macht aber den Blick frei für komplexe Zusammenhänge, die sich (in der Inszenierung schlüssiger als in der Vorlage) aus der Verschlingung von Liebeswirren und Staatsaktionen ergeben. Die raffiniert schlichte Bühne von Mathis Neidhardt schafft visuelle Tatsachen: Angestoßene Holzwände wie Nachlässe aus „besseren Zeiten“ verwandeln die Räume geräuschlos in immer anders wirkende Treibhäuschen. Im Unterstand an der Kriegsfront, Markierung zwischen den gewalttätigen Eindringlingen und den verzweifelt zurückschlagenden Verteidigern, entsteht ein niederschmetterndes Allzeit-Arrangement für Heldentod in Käfighaltung.
Jens-Daniel Herzog zwingt den Krieg, der den zweiten Teil der Oper beherrscht, in beklemmende Trauma-Bilder. Soldaten-Chöre brechen durch die Wand, stürmen an die Rampe, kriechen ins Schlachtfeld. Das Schicksal der drei Hauptfiguren ist dagegen ein einziges Suchen nach dem unauffindbaren Glück, von der eigenen Konvention so bedroht wie von den feindlichen Waffen, wunderbar inszeniert als leise tastender Individualismus im Kontrast zum tobenden Gefühlsaufstand. Im großen Ensemble (auffällig interessant: Sangmin Lee als bullig dissonanter Napoleon), das wie der aufgestockte Chor starken Eindruck macht, fallen die führenden Solisten dennoch aus dem Rahmen. Zurab Zurabishvili ist mit darstellerisch wie stimmlich zunehmender Präsenz der noch als Front-Tourist vernünftig scheinende Graf Pierre, der stoische Ruhe als russische Philosophie des Achselzuckens trainiert, während das unglückliche Liebespaar (Jochen Kupfer mit geradezu unheimlich wachsender vokaler Strahlkraft und Eleonore Marguerre in etwas verhangen bleibenden Tönen) die Reste der erlöschenden Beziehung wie im Hauch von Schmerz durchlebt.
Als verkannten Geniestreich wird GMD Joana Mallwitz trotz ihrer intensiven, in großen Teilen absolut überzeugenden Interpretationsarbeit die Prokofjew-Oper sicher nicht bezeichnen wollen. Sie gibt dieser an Ambitions-Hochdruck leidenden Partitur Zunder und viel Farbe, schafft mit weit ausholender, beflügelnder Dirigier-Technik jede Menge Freiraum für die Durchlüftung schwitziger Klangballungen und lockt das Philharmonische Orchester in schwebende Verästelungen, wo eiserne Opern-Klischees keinen Nistplatz haben. Freilich, Mallwitz kann auch Effekt. Das stilistische Sortiment der Möglichkeiten, das der Komponist zwischen Tänzchen, Liedchen und durchkomponierten Tableaus reichlich bietet, ist tadellos bewältigt. Am Ende freilich, wenn die Franzosen in Unterhosen vor den rächenden Siegern stehen und das russische Volk im drastisch notierten Chor-Gebrüll die frohe Zukunft aus ewigem Ruhm und einem Feldmarschall einfordert, kapitulieren Regisseur wie Dirigentin. Während Graf Pierre, der Klügste im öffentlichen Überlebenstraining, bei aufkommendem Hauruck-Patriotismus kopfschüttelnd die Stätte besinnungsloser Euphorie verlässt, befeuert die musikalische Leiterin den Chor zum finalen Kehlkopf-Hochleistungssport. Beim Blackout folgte bei der Premiere keine Schockstarre, es prasselten nahtlos Bravo-Rufe.