Foto: Szene aus "Rain Dogs" von Johan Inger © Bettina Stöß
Text:Dieter Stoll, am 7. Mai 2015
Was mag den autonomen Reibeisen-Barden Tom Waits mit Süßholzraspler Dean Martin in Nachbarschaft zu jüdischer Liturgie und wummernder Techno-Disco mit dem wiederum absolut eigenständigen Tiefengründler Ludwig van Beethoven verbinden? Der pure Sound ist es sicher nicht, weshalb der aus drei Stücken unter dem Sammelbegriff „Dreiklang“ montierte Nürnberger Tanz-Abend vielleicht doch bei „Dreisprung“ noch besser aufgehoben wäre. Vielleicht! Dreieinigkeit sollte es jedenfalls nicht sein, denn Johann Ingers vor vier Jahren in Basel entstandene Choreographie „Rain Dogs“ und Ohad Naharins bereits 1999 beim Nederlands Dans Theater geschaffene Produktion „Minus 16“ stehen wie flankierende Paten im Programm. Vor- und Nachhut für die Uraufführung des Nürnberger Ballettdirektors Goyo Montero.
Der Spanier mit der Erfolgsgeschichte eines bemerkenswerten Spartenaufschwungs am Opernhaus hat sich nach ausufernden Eroberungsfeldzügen beim ebenso umstrittenen wie populären „Handlungsballett“ mit dem Wendebekenntnis „Tanz pur“ auf den Weg „zurück zu den Wurzeln“ gemacht. Seine Kennziffer „111“ ist die Nummer der aus einer frühen, also feurigen Pogorelich-Konserve genommenen Beethoven-Klaviersonate – und in der Musikbeschreibung vom „Reifeprozess eines Menschenlebens“ schimmert die Lust auf „Handlung“ denn doch noch ein wenig durch. Zumal, da der Blick des „älteren Mannes“ vom Choreographen persönlich übernommen wird. Womit der früher beim Berliner Ballett solistisch tanzende Montero erstmals in seinen Nürnberger Jahren selber die Szene betritt. Und wie!
Es ist ein explosives Erinnerungs-Drama geworden, ein aus Schattenwelten aufstrahlender Poeten-Rundblick auf die Zwischenbilanz aus Ahnung und Hoffnung. Aus dem melancholischen Solo, das sich den Dämonen der Vergangenheit entwindet, wachsen ständig neu formierte Gruppenbilder. Diffuse Gefühle finden in der Vervielfältigung der Figuren zu so etwas wie Haltung. Eine Kulisse aus mobilen Wänden verändert permanent den Hintergrund, der mal wie das Angebot eines Verstecks wirkt und dann wieder wie ein Labyrinth von Kafka-Dimension. Das ist, in engster Verbindung zur Musik, ein wogendes Bild hochsensibler Begegnungen, das gefundene Wahrheiten immer wieder auszulöschen scheint. Im verzerrenden Klang lenkt die Spieluhr-Mechanik zu gespenstischen Menschenbildern, von denen der Solist aufgesogen, abgestoßen und wieder vereinnahmt wird. Goyo Montero macht nun wirklich kein „Seniorenballett“, er tanzt technisch makellos seine Rolle und kann die Herausforderung der Compagnie-Dynamik, die er an diesem Abend zu einem neuen Höhepunkt führt, auch selber annehmen. Ein Wirbel von Miniaturen und Kollektiven, verknüpft mit dem großen Entwurf des skeptischen Blicks, hält den Zuschauer in Atem. Bis der Tänzer und Tanzschöpfer am Ende nicht mehr zweifeln mag und die Schatten mit einem Final-Bild verscheucht, das man aus unterschiedlichen Gründen seufzend betrachten kann. Da hat der Senior plötzlich ein Kind an der Hand und gemeinsam gehen die Extrem-Generationen in die Rückenlage zur strampelnden Trainingseinheit „Kita-Ballett“. Das Publikum seufzte selig.
Vorher und nachher hatte es genug Anlass zur Heiterkeit. Und zum Staunen darüber, wie souverän die Nürnberger Compagnie inzwischen mit der Bewegungs-Artistik der Trend-Choreographen umgeht. Johan Inger hat ihr mit „Rain Dogs“ schon sein zweites Stück anvertraut, ein wunderbar entspanntes Spiel mit Hüpf-Spalier und Prozessions-Auflösung, wie es die frühe Pina Bausch einst erfunden hat. Höhepunkt ist der Identitätswechsel bei laufender Szene, wo Frauen und Männer lapidar Anzüge und Kleider tauschen.
Max Zachrisson an der Spitze der Truppe konnte die hintersinnige Zappelshow sogar zweimal mit Nonsens-Lauten zur schrägen Körpersprache eröffnen. Bei der Premiere gab es nämlich Feueralarm, das Haus wurde geräumt und nach einer knappen Stunde begann der Abend von vorne. Diesmal schälte sich aus dem Dada-Gemurmel deutlich ein staunendes „Wassn hier los…Alarm“, womit die Impro-Qualitäten zusätzlich bewiesen wären.
Ohad Naharins „Minus 16“, ein inzwischen legendäres Ballett-Bömbchen mit Rausschmeißer-Qualität, schlug dann auch in Nürnberg wie ein Konfetti-Orkan ein. Alles ist in Bewegung, nichts ist unmöglich. Wenn nach dem frontalen Cha-Cha-Cha und dem bebenden Rundlauf-Attacken die Tänzer ausschwärmen, um sich aus dem Publikum neue Partner für die Party mit Dean Martin zu pflücken, gibt es kein Halten. Keiner hätte sich gewundert, wäre auch noch Richard Gere zur Zugabe erschienen. Nach diesem Überwältigungs-Intermezzo bleibt nur Total-Disco der kompletten Montero-Truppe mit dem harten Schnitt des ständig hoch und runter fahrenden Zwischenvorhangs. Und so weiter…
Schön war es, aber jetzt ab in den Alltags-Abend. In der U-Bahn sah man noch manch heimliches Rest-Wippen. Nie war Nürnbergs Ballett nachhaltiger.