So leb- und klischeehaft zugleich lässt Barbora Horákova Joly ihre Uraufführungsinszenierung beginnen. Da ist mächtig was los auf der Bühne des Opernhauses, dessen Reihen lockerer besetzt sind als wegen Corona nötig scheint. Doch der Aufruhr rückt schnell beiseite, geht es um die Flucht (vor vergreister Bundesrepublik und Wehrdienst) nach Berlin, die mancher politisch verstanden haben will. „Mein Bruchsal, mein Trübsal“ jammert da in krachendem Vers Lise (Alina Adamski), die wie Albert nur weg aus der Provinz will und im Bahnhof Zoo an der Trinkhalle landet (die eher aussieht, als stamme sie aus Ost-Berlin). Ab jetzt geht es um Albert (den Mathias Hausmann überragend, mit wunderbar wandlungsfähiger Stimme gibt) und Lise, später Friederike, noch später Marie und Anna.
Musikalisch ist das über zweieinhalb Stunden hochspannend, auch, weil Kühr Instrumente in den Fokus rückt, die sonst nur Akzente setzen dürfen. Vor allem aber bleibt der Komponist völlig unsentimental, statt Gefühlsgesäusel gibt es deren Schärfe zu hören. Wenn Lise zu ihrem schnellen, hohen, an- und abschwellenden Gesang, der bis zum Keifen geht, Flugblätter zerfetzt, herrscht im Graben helle Schlagwerk-Aufregung. Aus der eher albernen Szene eines Flirts mit der (natürlich koketten) Zahnmedizin-Studentin Friederike (Julia Sophie Wagner) erwächst immerhin ein schön-schmerzfreies Duett. In der überwucherten „Pfaueninsel“ des zweiten Aktes hat nicht zum letzten Mal die Harfe eine Meinung. Schroff und düster kann sie klingen, Tonlinien abstürzen lassen, aber auch sanft geleiten. Ebenso facettenreich setzt Kühr das Schlagwerk ein: Neben dem auch mal scheppernden Aufruhr lässt er es grollen, drohen. Aus einem Sirren kann eine Melodie werden (wie im dritten Akt, der im Atelier spielt), den Sängern ein wie eine Welle sich biegendes „Was?“ abfordern, aber auch Stakkato- und Sprechgesang. Das Gewandhausorchester unter Ulf Schirmer, Solisten und Chor gestalten das alles klar, durchscheinend, kompromisslos und engagiert.
Barbora Horákova Jolys Inszenierung ist leider weniger konsequent, oft bebildert sie – wenn auch intensiv – nur, was Text und Geschichte hergeben, Revolution findet nur noch auf eingeblendeten Fotos statt. Die „Pfaueninsel“ aber ist eine optische Wundertüte: Ein Zebra im Rhönrad, Fürst (Philipp Nicklaus) und Hofmeister (Gabriel Pereira, vorher ein „Sponti-Student), die mehr Augen als Verstand haben (Kostüme: Eva Butzkies), ein Schafschor („wir kauen und schauen“), zottelig-elegante Pfauen. Wenn aber die letzte der Frauenriege, Anna (Magdalena Hinterdobler), an Silvester 1990 den verflixten siebten Hochzeitstag feiert, muss sie zur Wende-Parole „Wir sind das Volk“ Topfschlagen.
Zu solchen Offensichtlichkeiten lädt aber Hans-Ulrich Treichels Text auch ein. Pendelnd zwischen Banalem, Hochgestochenem („phrygische Flöten, lydische Pauken“) und Klassikeranleihen („Hell- oder dunkelgrau, das ist hier die Frage“). Politisch wird das Private hier nicht. Und aus den kurz aufflammenden Erinnerungen an Krieg und Wehrmachtsterror entsteht leider nichts, auch davon hätte „Paradiese“ erzählen können.
Nach zweieinhalb Stunden wurden gleich nach Hauptdarsteller Mathias Hausmann das Gewandhausorchester und Dirigent Ulf Schirmer bejubelt, völlig zu Recht.