Foto: Nachts auf dem Friedhof: Bele Kumberger (Mitte) als Kantorka in „Krabat“ © Bettina Stöß
Text:Andreas Falentin, am 6. Juni 2022
„Hier wird bewusst erzählt, enthusiastisch, feurig und mitreißend theatralisch.“ Das schrieb ich im November 2015 über „Klein Zaches, genannt Zinnober“, die erste Koproduktion des Musiktheaters im Revier mit der Steampunk-Band Coppelius. Und das lässt sich für den sich jetzt, sechseinhalb Jahre später ereignenden Nachfolgeabend auch sagen. Ansonsten gibt es aber kaum Ähnlichkeiten, abgesehen vom eigenwilligen Klangfarbenspektrum, dass sich aus der Besetzung von Coppelius ergibt: zwei Klarinetten, Cello, Kontrabass, Schlagzeug.
Wenn wir „Krabat“ erleben und mit „Klein Zaches“ vergleichen, wird uns geradezu erschreckend deutlich, dass wir nicht mehr in derselben Zeit leben. War die alte Produktion ein lustvolles Nachdenken und Gestalten über Romantik einst und jetzt, mit einer witzigen Zitatenmaschine auf allen Ebenen und wenigen Figuren, die man mögen und an denen man sich reiben konnte, ist „Krabat“ vor allem: lapidare, intensive Dystopie.
Entsetzlich öde wirkt der Alltag der Müllerburschen und Zauberlehrlinge, die ständig Säcke auf der Bühne hin- und herbewegen müssen. Und Krabat, der Titelheld, ist vor allem: einer von ihnen. Wir können ihn teilweise kaum ausmachen auf der Bühne, obwohl Bastille, der Sänger von Coppelius, über beträchtliche Ausstrahlung verfügt. Aber die Inszenierung von Manuel Schmitt macht sich diese bewusst nicht zunutze. Der Regisseur hat sich von Julius Semmelmann eine gewaltige Bühnenskulptur bauen lassen, mit einem riesigen Kreis über die komplette Bühnenhöhe: mal Mühlenrad, mal Mond, immer wieder das Auge des Meisters. Erbarmungslos schaut es auf die jungen Männer hinunter, deren Müllertracht durchaus, und, vermutlich mit Absicht, an KZ-Häftlinge erinnert. Auch die übrigen Kostüme von Sophie Reble verweisen auf eine nicht sehr weit entfernte Vergangenheit.
Metaphorik ohne Metaphern
Die Handlung von Otfried Preußlers 1971 erschienenem Jugendbuch wird flüssig erzählt – und so wenig illustrativ wie möglich. So packt die Erzählung unmittelbar, atmet Lebensnähe, vielleicht auch durch ein Paradox: Das Geschehen auf der Bühne ist in jedem Moment Metapher, zumindest metaphorisch lesbar. Als erzählerisches Mittel werden Metaphern jedoch nur dann genutzt, wenn die Vorlage keinen anderen Ausweg lässt, etwa bei dem Umgang mit dem magischen Messer des Altgesellen Tonda. So entschieden wie selten bekommen wir Zuschauer immer das Ganze präsentiert. Es wird uns nicht gestattet, uns in einzelnen Momenten, Segmenten oder Figuren zu verlieren. Bühne und Kostüme sind plastisch, aber nie illusionistisch gestaltet. Das Licht von Patrick Fuchs zeigt immer gleichzeitig alles und nichts. Dis Texte von Ulf Schmidt arbeiten mit Wiederholungen, mit wiederkehrenden Sentenzen („Die Toten sind tot“), aber kaum mit Reimen und gar nicht mit hochfliegenden, poetischen Bildern. Sie bleiben sprachlich am Boden, gestalten soziale Prozesse und treiben die Erzählung fast gnadenlos voran.
Ein Wunderwerk für sich ist die Musik. Das Musiktheater im Revier hat Coppelius mit Himmelfahrt Scores zusammengespannt, einem Komponistenkollektiv, das bisher vor allem am Nationaltheater Mannheim durch sinnliche Arrangierkunst aufgefallen ist. Sie steuern hier nicht unkomplexe, aber höchst bekömmliche Klangflächen bei, Breitwand-Filmmusik nicht unähnlich und mit aus dieser bekannten Effekten. Im ästhetischen und inhaltlichen Zusammenhang der „Krabat“-Produktion wirken die schluchzenden Violinen und säuselnden Harfen aber nicht wie übertreibender Kitsch, sondern wie kleine Lichter in dunkler Nacht. Auch weil der Sound von Coppelius eben nur eine Richtung kennt: nach vorn. Und unruhig ist dabei, regelmäßige Rhythmen verweigert, kaum Orientierungspunkte bietet, aber schon in Abgründe schauen lässt. Diese Melange gibt keinen Gesangsstil vor. Jeder und jede muss hier seinen Weg finden zwischen Oper, Musical, Rock und Sprechgesang.
Eine Stunde Null, die niemand erleben will
So ist „Krabat“ also kein vor Fantasie berstendes, hochemotionales und hochenergetisches Vergnügen wie seinerzeit „Klein Zaches“. Die neue Arbeit bleibt vor allem in puncto Charme hinter der alten zurück, ist aber näher dran an uns und unserer Zeit, zwingt uns, uns wirklich mit dem zu befassen, was wir da sehen. Plastisches Beispiel: das Schlussbild. Krabat hat den bösen Meister besiegt, die Mühle ist verbrannt und die Müllerburschen sind heimatlos. Sie stehen auf der leeren Bühne vor dem erstmals an diesem Abend sichtbaren Orchester – übrigens präzise und enthusiastisch geführt von Peter Kattermann. Warm und ärmlich angezogene Statistinnen und Statisten kommen von den Seiten. Wir denken an ein zerstörtes Land nach einem Krieg, an eine Stunde Null, die niemand erleben will. Und die heute näher scheint als seit langem.
Die Art von Theater, die „Krabat“ ist und sein will, macht es den Künstlern auf der Bühne schwer, zu glänzen. Deshalb sei hier ausdrücklich gewürdigt, mit welcher Klasse, welchem Ernst, welcher Intensität und Musikalität hier gespielt wird. Bele Kumberger ist eine leidenschaftliche Kantorka mit sehr eigenen Sopranfarben, Sebastian Campione ein starker, warmherziger Tonda mit dunklem Bass und leichter Höhe, Martin Petschan ein in jeder Beziehung wandlungsfähiger Juro und Graf Lindorf, der Coppelius-Cellist, ein gefährlich maliziöser Lyschko. Auch in den kleinen Rollen stimmen Präsenz, Timing, Ausdruck. Den Meister gab Regisseur Manuel Schmitt selbst für den erkrankten Joachim G. Maaß – und Heribert Feckler sang von der Seite, ein Effekt wie erfunden für diesen Theaterabend voller Kraft und Widerhaken.