Foto: "Le Grand Macabre" an der Oper Chemnitz © Dieter Wuschanski / Die Theater Chemnitz gGmbH
Text:Volker Tzschucke, am 30. September 2013
Ein Schnitt wie durch einen Ameisenhaufen bietet sich, als sich der Vorhang zum ersten Bild in György Ligetis „Le Grand Macabre“ hebt: Erdhöhlen, enge Gänge und dazwischen viel schwarzes Nichts – Georg Baselitz, der Künstler, der zum ersten Mal mit einem deutschen Theater als Bühnenbildner zusammenarbeitet, nutzt hier die ganze Bühnenhöhe im Opernhaus als Spielfläche. Er schafft einen anspruchsvollen Raum, die Figuren müssen sich hier zunächst in höchsten Höhen agieren (natürlich angeleint) und sich dann durch die Niederungen pressen. Später wird es deutlich flacher (das Bühnenbild), doch nicht weniger symbolträchtig zugehen – die Höhlenausschnitte kehren immer wieder, als überdimensionierte Röhre, als Scholle, auf der man dahintreibt, als Ausgänge zurück ans Licht.
Doch zunächst sticht wie ein ungezogener Junge Nekrotzar, der Große Makabre, in diesen Ameisenhaufen hinein. Regisseur Walter Sutcliffe verzichtet auf das große Gewimmel. Und doch spielt er durch, was sich ergibt, wenn man erfährt: Diese Welt geht ihrem Ende entgegen. Ein liebendes Paar macht einfach weiter, wo es gerade war – es liebt sich. Der eine oder andere betrinkt sich nochmal. Der Geheimdienst ist ahnungslos und in seinen Aussagen wirr. Die Staatschefin versteckt sich unter einem Tisch. Und das Volk: Der Chor flieht aus dem Bühnenraum ins Publikum hinein, hat Angst und bittet um persönliche Errettung. Doch die gibt es eigentlich nur, wenn man mal allein ist, endlich als „Haus im eigenen Herr“ agieren darf: Einsamkeit als tröstendes Element. Nekrotzar – dunkel-vital von Heiko Trinsinger auf die Bühne gebracht – erweist sich in all seiner Düsterkeit auch als ein Befreier, der mit seinen apokalyptischen Ankündigungen versteckten (Über-)Lebenswillen und unterdrückte Lebenslust hervorkitzelt. Doch leider zeigt er sich am Ende als Spießer: Als der Weltuntergang ausbleibt, legt er sein Stöckchen beiseite, zieht er seine dunkle Zaubererkutte aus und sein Biedermann-Kostüm – Strickweste und Kassengestell – an, verschwindet und lässt eine ratlose Meute rund um Fürst Pogo (liebreizend amüsant in fetter Hilflosigkeit: Monika Straube) zurück.
Bis dahin ist es ein langer, nicht immer anregender Weg: Dies liegt nicht an den Kostümen. John Bock ist einfallsreich zu Werke gegangen, erinnert in seinen Figuren an Vorbilder von „Heidi“ bis „Star Wars“, von Formans „Amadeus“ bis Disneys „Fluch der Karibik“ und schafft damit ein eigenständiges ästhetisches Erlebnis (seine wie auch Baselitz‘ Entwürfe sind seit Samstag auch in den benachbarten Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen). Doch vor allem der erste Akt zieht sich – trotz nur 45 Minuten – zuweilen bedenklich dahin, hier hätte ein wenig mehr Spiel- und Inszenierungslust auf der Bühne und vielleicht auch weniger selbst auferlegte Begrenzung im Bühnenbild gut getan. Entschädigt wird man durchgängig musikalisch: Ligetis Anti-Anti-Oper wartet reihenweise mit scheinbaren und wirklichen musikgeschichtliche Zitaten aller Jahrhunderte auf, die Robert-Schumann-Philharmonie unter Frank Beermann kann sich hier einmal mehr als Meister aller Klassen präsentieren. Dies gilt ohne Abstriche auch für die Meisterung der ungewöhnlichen Orchestrierung: Zu zerreißendes Papier, kanonartige Autohupen, Weckerklingeln – präzise und fast gewollt klingend unsauber eingesetzt – tragen zum Klangerlebnis bei, ebenso wie Chöre und instrumentale Solisten, die mit ihrem Einsatz im Parkett und in den Rängen die Weltuntergangsstimmung atmosphärisch bis in den Saal tragen.
Und so ist es die eigentliche Überraschung dieses Abends: Dass Georg Baselitz nicht der Star dieser Inszenierung ist. Dass der Künstler sein Ego zurückstellt, am Ende dem Orchester, den Solisten, den Chören applaudiert und sich als das gibt, was er für diese Oper war: Gleicher unter Gleichen, ein Beiträger zu einem weitestgehend gelungenen Opernabend.