Foto: Szene aus der zweiten UA des Abends, Dirk Lauckes "Seattle". Nicole Reitzenstein, Stephanie Schönfeld © Maurice Korbel
Text:Bettina Schulte, am 4. Februar 2014
Es gibt Umstände an diesem Abend, die Fragen aufwerfen. Warum zeigt das Theater Freiburg gleich zwei Uraufführungen hintereinander? Warum findet die Aufführung von zwei kleinen Stücken mit kleiner Besetzung im halbleeren Großen Haus statt? Die erste Frage lässt sich leichter beantworten. Die Dramatiker Paul Brodowsky und Dirk Laucke bringen zweimal den Brennpunkt Berlin ins beschauliche Freiburg – aus unterschiedlichen Perspektiven. Brodowsky hat bei Kirsten Heisig nachgehakt. Die am Amtsgericht Neukölln tätige Jugendrichterin machte durch den Ruf nach durchgreifender Justiz gegenüber Straftätern mit Migrationshintergrund auf sich aufmerksam, bevor sie sich im Wald erhängte. „Intensivtäter“ sampelt Stimmen aus Staat und Gesellschaft. Neben der Richterin kommen der Bürgermeister, die Mutter eines “indigenen“ Schülers und eine mit den Delinquenten therapeutisch arbeitende Performerin zu Wort. Es sind aus dokumentarischem Material à la Jelinek geformte Statements, die Brodowsky einer szenischen Umsetzung zumutet.
Ganz anders Laucke. In „Seattle“ geht es um Charaktere: Frances, eine alleinerziehende Mutter mit verlorenen antibürgerlichen Idealen und verlorener ökonomischer Unabhängigkeit, sitzt in der finanziellen Klemme. Weswegen der türkischstämmige Gerichtsvollzieher Herr Yildiz zu ihrem freundlichen Gegenspieler wird und ihre polnische Freundin Mascha, eine unorthodoxe Altenpflegerin, zwischen die emotionalen Fronten gerät. Ganz normale Menschen, so sieht es der Autor, der es für ein Missverständnis hält, wenn behauptet wird, er schreibe über Außenseiter.
Die junge Regisseurin Johanna Wehner hat sich bei „Intensivtäter“ für eine grelle Farce entschieden. Das kann man machen. Die Bühne ist ein von Absperrband umgrenztes Feld mit elastischen Steinplatten, einem seltsamen Würfel aus Laub und einem Beet mit exotischen Pflanzen. Es geht sich nicht solide auf diesem schwankenden Grund. Das bunte Trüppchen, das von der Seite einzieht wie auf ein Schlachtfeld, bemüht sich vergeblich um Gleichschritt und Ordnung. Das Schauspielerquartett steckt in den grässlichsten Kostümen. Johanna Eiworths Richterin trägt einen gesteppten Insektenpanzer auf dem pepitagemusterten Rücken; Holger Kunkels Bürgermeister liegen die Haarsträhnen in militärischer Ordnung über dem kahlen Schädel; Iris Melameds Mutter schleppt einen Rucksack über durchsichtigen Pants und schaut mit verständnislosen Augen unter kunstvollen Haarnestern hervor; Charlotte Müllers Performerin treibt es wüst mit blonder Mähne, Spielhöschen und Ringelstrümpfen.
So viel infantilisierende Hässlichkeit ist schwer zu ertragen. Auch hier tut sich die Frage auf: warum? Braucht es ein Achtung!-Schrill-Equipment mit Spitzhütchen und Luftballons, um die Absurdität der Debatte über türkische und arabische „Intensivtäter“ zu illustrieren? Man kann diese Comicfiguren nicht ernst nehmen. Man sollte es aber vielleicht doch. Das pure Lächerlichmachen von Positionen wie derjenigen der Richterin Heisig wird der politischen Komplexität des Problems nicht gerecht. Die Regie findet kein Verhältnis zu dem Diskursraum, den Brodowskys literarisch keineswegs meisterhaftes, aber spannendes Stück öffnet. Sie ist eine Lektion in Hilflosigkeit. Eine Kapitulation.
Von Jan Gehlers „Seattle“-Inszenierung kann man das nicht sagen. Hier ist mit Modellen von Plattenbauten eine schöne Bühnenlösung gefunden. Stefanie Schönfeld ist eine trotzig-rotzige Frances, André Benndorff ein Menschenfreund im Superman-Kostüm, Nicole Reitzenstein eine Mascha mit praktischer Vernunft und Schwärmerei auf Sparflamme. Warum entzündet sich kein Interesse an diesen Figuren? Warum lässt ihr Schicksal – immerhin stirbt ein zehnjähriger Junge – kalt? Vermutlich, weil sie der Autor zu eindimensional und ohne Entwicklungsmöglichkeit gezeichnet hat. Herr Yildiz immerhin kriegt noch die Kurve. Auf dem Motorrad lässt er die traurigen Berliner Verhältnisse hinter sich. Man gönnt es ihm. Nichts wie hinterher.