Foto: Claudia Mahnke (Marie), Edward Jumatate (Mariens Kind) und Martin Wölfel (Der Narr) © Monika Rittershaus
Text:Ekaterina Kel, am 28. Juni 2016
„Jeder Mensch ist ein Abgrund“, seufzt Wozzeck schmerzhaft und ersticht seine Geliebte Marie – das einzige, wozu er zu diesem Zeitpunkt seiner Lebenstragödie noch in der Lage ist. Danach: ein einziger wachsender Ton, bedrohlich und mit tiefster Verzweiflung durchtränkt, das ist die stärkste und schaurigste Stelle der Oper. Die „Invention über einen Ton“, wie Alban Berg diese Szene nennt, ist nur eine der Besonderheiten seiner weltberühmten Opernkomposition, die am Sonntagabend in Christof Loys Regie Premiere in Frankfurt feierte.
Wozzecks affektvolle Handlung birgt keine Hoffnung oder logische Schlussfolgerung, sie ist das Resultat einer seelischen Abwärtsbewegung, die die Person Wozzeck immer weiter aushöhlt, bis nur noch ein Körper aus Symptomen auf der Bühne steht. Alban Berg nahm 1915 das Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner, damals beinahe ein Jahrhundert alt, als Vorlage für seine Oper. Der Stoff behandelt nicht nur Klassenunterschiede: Arme Menschen, die an ihrer ausweglosen gesellschaftlichen Situation und ihrer Ohnmacht, sie zu ändern, zerbrechen; und reiche Menschen, die diese Tragödie durch ihre Übermacht mit herbeiführen. Er ist auch eine unter die Haut gehende Analyse psychopathologischer Entstellungen eines ohnehin verzweifelten Menschen.
Bergs avantgardistische Komposition spürt der Misere in Büchners Drama nach, fügt ihr eine eigene, stellenweise etwas dick aufgetragene Interpretation hinzu. Seine Musik lässt kein Lichtschimmer aufleuchten, stattdessen fühlt sie mit den geschundenen Charakteren auf der Bühne mit, kommentiert ihre Einfalt, zieht sie beinahe genießerisch noch weiter herunter. Das Orchester leistet unter Sebastian Weigles Taktstock eine ausbalancierte Arbeit und trägt den Abend durch die vielen Zwischenspiele, denen es die nötige Gewichtung verleiht.
Christof Loy macht das Mitfühlen auch für die Zuschauer und Zuschauerinnen zum Erlebnis des Abends. Loy nimmt sich Büchners Poesie der Verzweiflung mit aller Ernsthaftigkeit an und arbeitet sich bis in die Tiefe der Figuren durch, kitzelt die nötige Erkenntnis der eigenen Ohnmacht und die angestaute Wut aus Marie und Wozzeck heraus, beschwört bekannte und trotzdem nicht langweilige Karikaturen vom Hauptmann und Doktor auf die Bühne, bemüht sich um eine rotzige Note im selbstverliebten Tambourmajor. Loys Analyse sorgt für einen sofortigen emotionalen Einstieg in seine Inszenierung. Nur läuft sie dadurch Gefahr, dem Publikum die Reflexion im Vorfeld abzunehmen, sie größtenteils der Empathie zu überlassen, die kein „Warum“ mehr erlaubt.
Bühnenbildner Herbert Murauer und Lichtdesigner Olaf Winter geben den Bühnenfiguren einen großen kargen Raum, den sie mit ihren Tragödien füllen können. Drei verschiebbare Trennwände strukturieren das seelische Vakuum, in dem sich Wozzeck befindet. Seine Stimme ist ein bedrohliches Dröhnen, das den Bühnenraum zu sprengen droht. Er ist wütend und frustriert, seine Aggression lässt ihn mal innerlich brodeln, mal ausrasten. Der norwegische Gast Audun Iversen steckt Wozzecks ganzen Wahn in seinen expressiven Bariton. Und doch bleibt Wozzeck bis zum Ende die rätselhafteste Gestalt, die fast nie etwas wirklich sagt, sondern deren Sätze nur so aus ihr herausbrodeln. Sie sind düstere Fantasien des Wahnsinns und Beschwörungen des eigenen Untergangs in einer hoffnungslos verdorbenen Welt. In seiner Misere der Ausweglosigkeit begegnet Wozzeck der Übermacht, die sich in Form des begehrenswerten Tambourmajors (Vincent Wolfsteiner) des einzigen bemächtigt, das Wozzeck Halt im Leben gibt: seiner Marie.
Diese wird ebenfalls affektgeladen von Claudia Mahnke verkörpert, die auf der Bühne mit ihrem ganzen Körper, bis zur letzten Haarsträhne, Marie geworden ist. An den vielen Gefühlsextremen der Figur hat Mahnke sichtbare Lust, hechelt von Wand zu Wand, von Mann zu Mann, und erntet für ihren raumfüllenden Mezzosopran einen Saal voll Begeisterung. Derweil predigt die Oberschicht hochnäsig den Individualismus, wie der Hauptmann mit seiner eigenen Pseudophilosophie (fabelhaft überzogen von Peter Bronder dargestellt) oder der Doktor mit seinen erfundenen medizinischen Weisheiten (süffisant-sadistisch von Alfred Reiter verkörpert).
Auch die kleinen Partien überzeugen: Martin Mitterrutzner gibt mit seinem frischen Tenor einen unschuldigen Andres und komplementiert Iversens ölig-volumenösen Bariton. Thomas Faulkner bringt als Handwerksbursch mit seinem Bassbariton einen starken Stimmtupfer in die Wirtshausszene. Und die Figur des Narren (Martin Wölfel), schleicht wie ein Schatten der schlechten Botschaft fast immer stumm von Szene zu Szene und erinnert daran, dass wir alle völlig verrückt sind, solche Zustände überhaupt zuzulassen.
Loy beweist, dass Wozzecks Geschichte niemals alt wird. Das Einfühlen in seine Verzweiflung bringt immer wieder neue Erkenntnis. Das Frankfurter Publikum schenkte den Solisten und dem Regieteam langanhaltenden Applaus. Wenn es denn Buh-Rufe gab, dann wurden sie sogleich von tosenden Bravi ums Vielfache übertönt.