Foto: „Q“ beim Don Quichote-Doppelabend im MIR © Bettina Stoess
Text:Melanie Suchy, am 23. Oktober 2023
Aus „Don Quijote“ wird „Don“ und „Q“. Der Tanz-Doppelabend am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen lehnt sich an den alten spanischen Klassiker an, den Schelmen-Ritter-Roman von Miguel de Cervantes. Beide Tanzstücke suchen und finden ganz unterschiedliche Zugänge zur Vorlage.
Der „Don“ von Tanzchef Giuseppe Spota will berühmter Sänger, also Popstar werden; der „Q“ von Gastchoreografin Jasmine Vardimon will gut leben, für sich. Dafür bändigt er seine Fantasien, Gestalten, die aus Erinnerungen auftauchen oder irgendwelchen kaputten Untergründen. Wie erfolgreich die beiden Herren wohl sind? Rhetorische Frage. Aber was macht ihre unritterlichen Kämpfe interessant? Der Pokal geht an „Q“.
Sänger und Rotationen
Giuseppe Spota scheint dem Tanz nicht viel zuzutrauen. Bei ihm beherrscht ein Gerüst die Bühne, im Sinne von „hoch hinauf“, ein Schlagzeuger mittendrin, unterm Gestänge, Robert Jambor; im Graben die Neue Philharmonie Westfalen, geleitet von Askan Geisler. Die sechsköpfige Tänzerschar ist in Blaumänner gekleidet und manchmal, Zeichen der Verwirrung des Stars, wie dieser selbst: schwarze Hosen und weiße Hemden mit langen Fransen an den Ärmeln. Die Elvis-Anmutung vergrößert die Verstaubtheit des Ganzen. Wurde nicht das Genre „Ich will Superstar werden“, in Anlehnung an TV-Formate, längst auf den Theaterbühnen zu Tode geritten? Aber ok, die Ritter waren zur Zeit der Ritterromanemode auch schon Geschichte.
Der junge Mann hier, der Sänger Sebastian Schiller, der ständig mit sich, aber ins Mikrofon spricht und ruft und brüllt und manchmal singt, faselt sich den kommenden „Ruhm“ und eine Art Plan zurecht. Den Text verfassten Anna-Maria Polke und Schiller selbst. Einen Namen, einen „Brand“, brauche er, ja, „Don“ ist gut, „der Herr im Haus“, Pferde auf der Bühne wären super, wiederholt er, „eine Tournee!“. Das Tänzergrüppchen ist Deko; es hübscht den ersten Song auf mit einem Unisono-Showtanz im Takt, rechts-links. Die sechs mutieren dann zu herumtollenden Mikrofonhaltern, was Dons Redefluss unterbricht, und mit Schlagzeugstöckchen spielen sie klapprige Beinchen und Vögelchen. Sie purzeln. Der kleine Tänzer Urvil Shah wird zum Sancho auserkoren und von Don geschultert und gewirbelt, manipuliert. Die Angebetete aus dem Roman, Dulcinea, streckt die Beine ballettös, Zsófia Safranka-Peti; Don fasst sie an im Kurzduett, wie ein Spielzeug im Partnerlook, nicht wie eine Frau. Es zerbröselt ihm alles unter den Händen.
Nicht nur die Drehbühne rotiert unter ihm und dem Gerüst; vor seinen Augen kullern die Tänzer, drehen sich; ihre Arme und Beine erinnern an die berühmten Windmühlenflügel, die er aber nicht bekämpft im Wahn. Dieser unreife Don sieht ja eigentlich nur sich. Er singt von Echos der Zeit, „the echos of time“, schließlich „This will be the end, my friend“ und, wahnsinnig originell, vom Fallen und Wiederaufstehen. Die Musik von Christof Littmann ist für den Musical-Drive, spanische Anklänge und ironische Spritzer zuständig, neben dem Schlagzeug auch mit Tuba, Harfe und Trompeten.
Kunstfertige Irritation
Nach dieser etwas platten Story verwirrt Jasmin Vardimon auch ihr Publikum, auf bezirzende Art. „Q“ ist das Leben nach einer Katastrophe. „Q“ wie „question“, Frage, wie das Programmheft sagt. Etwas zwischen A und Z, das seine Richtungen vergessen hat, seine Werte. Zu Beginn rumst und grummelt es aus den Lautsprechern, Tänzer in Klamotten der 40er Jahre stürzen und strampeln in Lücken des Bühnenbilds, das nicht mehr an Gestänge senkrecht hängt sondern nun schräg aufgebockt ist, konzipiert von Spota und Vardimon. Ein Erdbeben verschluckt die Menschen und ihr alltägliches Leben. Eine Stehlampe und Stühle bleiben übrig und ein Mann, Joonatan Zaban im grauen Anzug und mit einem Hut, aus dem er Asche klopft vorm Aufsetzen. Die israelisch-britische Choreografin verdreht seinen Kopf.
Erst kapiert er die Katastrophe nicht, sie muss sich ihm wiederholen. Statt sich in Trauer selbst zu vergraben, lässt er die Puppen tanzen. Die Geister, die er ruft oder nicht, erscheinen mit wellenhaften Schritten im Chor, weiche Wesen, mit nach vorne wogenden Armen und sich biegenden Oberkörpern. Als Einzelne werden sie Dienstpersonal. Eine Putzfrau mit Eimer, die rasant wie im Freudentaumel herumwirbelt. Ein Diener mit Silbertablett und Träubchen, der den steilen Weg übt und schick fällt und dreht, zum Ergötzen des oben kommandierenden Herrn. Weiße Holzstühle schweben als Gerippe im Dunkel herum. Eine Mädchenpuppe, die den Mann erst glauben lässt, sie brauche seine arrangierenden Hände, knickt später von selbst, den Hals, die Ellbogen, klappt die Beine zum Kopf, erscheint, verschwindet, lächelt, die Niedlichkeit wird grotesk. Auch das übrige Personal entdeckt schließlich in der Dynamik und Kraft, die es schon hatte, das Potenzial zum Aufstand. Erst auf und mit Stühlen, dann zum Berg hin.
Dass Vardimon mit den acht glänzenden Tänzerinnen und Tänzern aus einem traurig katastrophischen Beginn ein so herrlich überkandideltes Tanztheater schafft, ist gewagt. Aber die Irritation ist kunstfertig, viel Wahrheit steckt in dem Spiel der Fantasie. Der Überlebende folgt am Ende seiner Frau – in die Unterwelt? –und wird Geist, Bild, Puppe. Vielleicht hat er nicht wirklich überlebt. Elvis singt. Er aber lebt.