Ich. Ihr. Wir. Darum geht es in „Fremd“. Wie gehört man dazu mit einer solchen Biographie, als Flüchtling, als Jude? Will man überhaupt dazugehören? Es geht um die Angst, die immer da ist, um die Einsamkeit, die man sich selbst schafft, als Schutz, um das Vertrauen, das man nicht fassen kann. Zumal wenn die Familie umzieht in das „Land der Mörder“, weil der Vater sich beruflich verändert.
Genau gefasste Sprache
Das alles hat Michel Friedman sehr genau gefasst, mit einer Sprache, die auf alles Beiwerk verzichtet. Mit einer Sprache, die seinen Seelenzustand beschreibt, also eher statisch ist, in die Breite und die Tiefe arbeitet, schon Überraschung oder sogar Witze bietet, aber kein genuin dramatisches Geschehen, keinen Höhepunkt, keinen Knoten. Dieser Seelenzustand ist in seiner genauen Zeichnung trotzdem schwer zu fassen, weil er groß ist – und eben fremd. Für uns Publikum, das das alles nicht erlebt hat.
„Fremd“ ist 2022 als Hörspiel im Deutschlandfunk produziert worden (mit Constanze Becker und Sabine Küchler als eine Art zweistimmiger Monolog) und wird am 7.12. auch am Berliner Ensemble gespielt, als „szenische Lesung“ (mit Sibel Kekilli). In Hannover hat Stephan Kimmig den Text nicht als Monolog gesehen. Hier stehen vier Schauspieler:innen auf der Bühne, immer zusammen. Katja Haß als Spielort einen Un-Ort entworfen, einen Ort des Transits, wo man sich nicht aufhalten mag, eine Illustration des im Text oft genannten „Irgendwo im Nirgendwo“. Man denkt an eine Wartehalle in einem Flughafen oder in einem Amt oder einen langen Büroflur mit einer Fensterfront. Hier setzt Kimmig eine Art Familienaufstellung auf.
Familienaufstellung
Vater, Mutter, Sohn, Tochter. „Fremd“ ist eigentlich durchgesprochener Text. Friedman hat einen älteren Bruder, aber der kommt im Text nicht – oder fast nicht – vor. Kimmig will nicht die psychologische Situation der Familie Friedman abbilden. Er will einen Anker schaffen für das Publikum. Familie, das ist klein, das kennt man. Er zeigt die Eltern, die alles wollen für die Kinder, sie schützen, beschützen, ihnen die Freiheit nehmen, und erwarten, dass die Kinder sie auch schützen, also wieder die Freiheit nehmen, fast ausbeuten. Dieser Prozess, den jedes Familienmitglied kennt, erscheint unter dem Brennglas von Friedmans Biographie vergrößert. Es macht Michel Friedman ¬– sozusagen – zum „Wir“, zu einem von uns, ohne das schwere Schicksal zu leugnen. Im Gegenteil. Eine Quadratur des Kreises.
Das Ensemble von „Fremd“ . Foto: Katrin Ribbe
Und es zeigt Stephan Kimmig als unglaublich genauen Regisseur. Es gibt keine Reize an diesem Abend, die von der Sprache ablenken, jedes Wort, jede Phrase muss sitzen und in den Ablauf passen. Die Schauspieler sind großartig, vor allem miteinander, im Zuhören, im nicht zu laut sein. Christine Grant ist das forsche, fragende Kind, Alban Mondschein das behutsame, Stella Hilb die Mutter, die stark ist und auch böse, aber immer liebenswert, Max Landgrebe ein zurückhaltend lieber Vater. Wie sie zusammen spielen ist fast ein Gegenbild zu der beschriebenen „Familie“, behutsam, achtsam, liebevoll, mit zwei wunderbar reinen A-Capella-Gesängen zu viert.
P.S. Noch einmal Wir. Im Programmheft sind die 34 Fragen abgedruckt, von denen man die Hälfte beantworten muss, wenn man in Niedersachsen eingebürgert werden möchte. Kein Leben, nur Geographie und Geschichte. Wenn man weiß, wer der erste Bundeskanzler diesem Land war oder ob Ammerland, Nordfriesland oder der Vogtlandkreis sich in Niedersachsen befinden – hilft uns das zum „Wir“-Gefühl? Wohl nicht. Dieser Abend vielleicht schon.